Usedom oder die Geschichte vom Anfang

Ich, als einjähriger in Kiel
Ich, als einjähriger in Kiel

 

Ich muss so etwa um die zehn Jahre alt gewesen sein, als folgende Geschichte ihren Anfang nahm. In der Schule hatten wir an diesem Tag so etwas wie eine Aufklärung erhalten. Natürlich hieß das damals nicht Aufklärungsuntersicht und die Informationen die wir dort erhielten waren, gemessen an der heutigen Zeit recht dürftig. Sie wurden uns etwa 45 Jungs - die Mädchen waren ja in der Paralellklasse - von unserem, bei diesem Thema doch sehr gehemmten, Klassenlehrer Herrn Göbel nahegebracht.

Er war schon ein älterer Herr und man schrieb das Jahr 1953. So kann man aus heutiger Sicht seine Hemmungen verstehen. Auf jeden Fall erfuhren wir, dass das Menschwerden neun Monate Zeit beansprucht.

Für mich und fast alle anderen im Klassenraum war damals alles was ein Lehrer sagte ein Gesetz.


Und wenn er sagte es dauert neun Monate, dann sind das auch neun Monate. Keinen Tag mehr und keinen weniger. Da biss die Maus keinen Faden ab.


Von meinem Geburtstag, dem 30.09.1943 zurück zu rechnen wann ich also gezeugt worden war viel mir nicht schwer und so stand es für mich sofort felsenfest, dass es in der Silvesternacht 1942/43 geschehen sein musste. Denn so was macht man ja nur nachts - dachte ich damals.


Der Sache musste ich unbedingt auf den Grund gehen, man war ja neugierig.


Als ich an diesem Tag aus der Schule nach hause kam hatte meine Oma das Mittagessen schon fertig, meine Mutter war schon von der Arbeit zurück und selbst mein Vater saß, da er in dieser Woche Nachtdienst hatte am Mittagstisch. Meine sechsjährige Schwester Heike und mein Bruder Robert, der gerade acht Jahre alt geworden war, vervollständigten die Runde.

Ich konnte vor Aufregung kaum stillsitzen. Schließlich war es ja sensationell was ich da heute gelernt hatte und welche Schlüsse ich daraus gezogen hatte.


Als alle am Tisch Platz genommen hatten stellte ich auch gleich die mich brennend interessierende Frage: " Du Papa, wo wart ihr eigentlich an Silvester 1942?"

"Wer wir?" kam brummig die Gegenfrage. Normalerweise war mein Vater ein humorvoller Mensch mit sehr viel Ironie und Selbstironie. Aber wenn er aus der Nachtschicht kam und nur einen halben Vormittag mehr oder weniger gut geschlafen hatte, war er auch mal brummig. 

"Na du und Mama." wollte ich wissen.

"Weiß ich nicht, frag deine Mutter." Und damit war für ihn das Thema zunächst erledigt. Eigentlich hätte ich ja gleich meine Mutter fragen können, aber dann wäre er mit Sicherheit sauer gewesen.

"Mama, wo habt ihr 1942 Silvester gefeiert?"

"1942" überlegte sie, "das war doch im Krieg. Und Papa war doch bei der Marine. Ich glaube da haben wir uns in Usedom auf Usedom getroffen. Sein Schiff lag gerade in Swinemünde und er hatte für einen Tag Landurlaub bekommen. Warum willst du das denn wissen?"


Noch bevor ich darüber Auskunft geben konnte was ich heute in der Schule gelernt hatte wollte mein Bruder wissen: "Was ist Usedom auf Usedom?"

Das hätte ich auch gerne gewusst, denn in Heimatkunde waren wir erst in den Mittelgebirgen angekommen, und damit höchstens im Harz als nördlichstem Punkt.


Meine Mutter erklärte es uns , als sich meine Schwester mit einer ihrer damaligen Standardfragen meldete: "War ich da auch dabei?"

Nachdem sich der allgemeine Heiterkeitsausbruch gelegt hatte, konnte ich endlich erklären warum ich dies alles wissen wollte.

Meine Eltern wurden recht verlegen - schließlich schrieb man das Jahr 1953 und man war doch noch sehr prüde. Und meine Oma, eine religiöse Frau die sich nach dem Krieg einer dubiosen amerikanischen Kirche angeschlossen hatte, schimpfte lauthals über "Sodom und Gomorrha" und prophezeite wieder einmal den baldigen Weltuntergang.


Und damit war das Thema vom Tisch. Auch meine mehrfach nachgeschobene Frage ob es denn vor Mitternacht oder danach geschehen sei, wurde mit einem "Sei endlich still!" abgeschmettert.

Später haben wir noch oft im Familienkreis darüber gelacht.


Im Frühjahr 1998, also mehr als 55 Jahre nachdem meine Eltern damals auf Usedom waren, nahm ich die Gelegenheit wahr und besuchte selbst einmal die Insel. Bis zur Wende hatten mich die ärgerlichen Grenzkontrollen und mangelnde Einladungen von DDR-Bürgern davon abgehalten nach "drüben" zu reisen.

Bevor wir - meine Frau, meine Enkeltochter und ich - die Koffer packten, rief ich noch einmal meine Mutter in Frankfurt an und erzählte ihr, dass ich für eine Woche zurück zu meinen Wurzeln fahren würde.

"Oh wie schön, du kommst wieder einmal nach Frankfurt." sagte sie erfreut, da ich ja schon seit 1977 in Hamburg lebte, und wir uns deshalb seltener sahen.


Als ich ihr aber erzählte das ich nach Usedom fahre war sie zunächst verblüfft, musste dann aber doch herzlich lachen.

Wir hatten eine schöne Zeit an der "Vorderseite" der Insel. Alles war schön, vieles war schon restauriert oder neu hier an der Seeseite. Die Fahrt zur Stadt Usedom hatte ich mir für den letzten Tag des Urlaubs aufgehoben.

Ich weiß nicht was ich dort erwartet hatte. Ein tiefes Gefühl der Verbundenheit? Ein seltsames Erschauern? Sollte mich ein Hauch der Geschichte - zumindest meiner eigenen - streifen?


Nichts dergleichen geschah. Und ich war enttäuscht, maßlos enttäuscht. Denn ich fand ein DDR-graues Provinznest vor und nicht die strahlende Inselmetropole die ich mir unsinniger weise vorgestellt hatte. Vierzig Jahre Planwirtschaft hatten den Ort herunter gewirtschaftet und das Rad der Zeit sogar zurück gedreht.


Sollte der Ort damals so ähnlich ausgesehen haben, kann ich meine Eltern verstehen, dass sie nichts besseres zu tun hatten.


Übrigens,seit damals haben wir noch viermal auf Usedom Urlaub gemacht, einen runden Hochzeitstag mit der ganzen Familie dort gefeiert und die Schönheit der Insel kennen und lieben gelernt.

 

Ferdinand Martin

  

Kirche von Mellenthin auf Usedom
Kirche von Mellenthin auf Usedom