Begegnung mit Björn, dem Herr des Berges

 

 

Es war einer dieser wunderbaren Sommer in Skandinavien, die einfach vergessen lassen dass man nordwärts und nicht in den Süden gefahren war.

 

Wir - das heißt meine Frau Christel und ich – waren nach Norwegen gereist um einmal richtig für drei Wochen auszuspannen und die Welt um uns herum zu vergessen.

 

Es war Mitte Juni und wir hatten mit Temperaturen um die zwanzig Grad und einigen Regentagen gerechnet und deshalb neben unserer Segeljolle auch festes Schuhwerk für kleinere und größerer Wanderungen in den umliegenden Bergen und Wäldern des Lyngdales in Südnorwegen mitgenommen.

 

 

 

Der kleine Flecken Eiken, am gleichnamigen Fluss gelegen, bot all das, was man für diese Art von Unternehmungen brauchte. Wir hatten bei einem Bauern am Ortsrand eine Ferienwohnung gebucht. Ganz in der Nähe unserer Unterkunft verbreiterte sich der Fluss zu einem See, der sich über etwa acht Kilometer lang durch das Gebirgstal erstreckte und zwischen vierhundert und eintausend Meter breit war. Zum Schwimmen war der See um diese Jahreszeit noch nicht geeignet, denn der See wurde durch den Fluss und zahlreichen Bächen mit Schmelzwasser der umliegenden Bergen gespeist.

 

Eiskalt. Aber zum Segeln war es das ideale Gewässer. Durch das Tal wehte ständig eine leichte bis mittlere Brise, die auch die Hitze erträglicher machte.

 

 

 

Hitze, das war wirklich die richtige Umschreibung für das, was wir dort an klimatischen Verhältnissen vorfanden. Tagestemperaturen von über dreißig Grad waren die Regel. Ein wirklich außergewöhnlich heißer Sommer für Südnorwegen. Deshalb mussten wir schon nach drei Tagen das Segeln vorläufig aufgeben weil wir uns einen kräftigen Sonnenbrand zugezogen hatten. Bei überwiegend wolkenlosem Himmel waren wir jeden Tag in Badeanzug und Badehose auf dem See – den wir uns nur mit einem einsamen Angler in seinem Ruderboot teilten – gesegelt, und der Sonnenbrand war nur eine Frage der Zeit gewesen.

 

Also war erst einmal eine andere Freizeitbeschäftigung gefragt. Städtebummeln und Besichtigungen von Museen und Kirchen war hier in der dünn besiedelten Region auch nicht gerade angesagt, also begannen wir zu wandern.

 

So beschäftigt gingen einige Tage ins Land und unsere gequälte Haut konnte sich wieder etwas erholen.

 

 

 

Am vierten Tag unserer „Wanderschaft“ hatten wir uns als Ziel einen Seter – eine norwegische Alm – ausgesucht. Der Weg dort hin betrug gut zwölf Kilometer und wir hatten auf schmalen Feld- und Waldwegen neunhundert Höhenmeter zu bewältigen.

 

Für uns norddeutsche Flachlandbewohner eine ganz beachtliche Leistung, zumal auch an diesem Tag wieder Temperaturen um die dreißig Grad herrschten.

 

Anfangs führte uns unser Weg noch durch dichte Nadelwälder, die uns ihren kühlender Schatten boten. Aber gegen 11 Uhr erreichten wir die Baumgrenze und wir mussten die letzten Kilometer in der wirklich stechenden Sonne zurücklegen.

 

Aber schließlich hatten wir es geschafft und ließen uns völlig erschöpft im Schatten einer kleinen Buschgruppe an einem munter plätscherndem, glasklaren Gebirgsbach nieder, in dem wir unsere kochenden Füße kühlten und unsere mitgebrachte Marschverpflegung verzehrten.

 

 

 

Aus einem etwa fünfzig Meter entfernt stehender Holzhütte hörten wir ein ständiges Rumoren, nur unterbrochen von gelegentlichen lauten Ausrufen, die wir als Flüche auf norwegisch einschätzten.

 

Verstehen konnten wir es jedenfalls nicht, denn unsere norwegischen Sprachkenntnisse beschränkten sich nur auf einige Worte und waren mit Begriffen wie Guten Tag, Danke, Bitte und Auf Wiedersehen auch schon fast erschöpft.

 

 

 

Nun darf man eine norwegischen Seter nicht mit einer Alm in den Alpen vergleichen, die ja teilweise bewirtschaftet sind und auf denen man ja auch meistens etwas zu essen und zu trinken bekommt. Hier in Norwegen besteht sie meist nur aus einer einfachen Holzhütte die Mensch und Tier einen gemeinsamen Schutz vor den Unbillen des Wetters bietet. Auch finden sich äußerst selten einmal Besucher in Form von Wanderern oder gar Ausländer ein.

 

 

 

Aus diesem Grunde starrte uns der Bewohner der Hütte, der nach etwa einer halben Stunde des Rumorens und Fluchens vor die Tür trat, ganz erstaunt an als er uns am Bach sitzen sah.

 

 

 

Aber unser Erstaunen war wohl auch nicht weniger groß als wir ihn dort stehen sahen. Fast zwei Meter groß, aber nur etwa sechzig Kilogramm schwer stand der „Herr des Berges“ dort und musterte uns. Angetan war er mit einer verschlissenen Cordhose die ohne Schwierigkeiten einem doppelt so schweren aber dreißig Zentimeter kleinerem Mann gepasst hätte und die mit einem Strick anstelle eine Gürtels an Ort und Stelle gehalten wurde. Ein rot kariertes Hemd in gleichen Dimensionen und ein Paar Holzclogs an den Füßen vervollständigten sein Outfit.

 

 

 

Er hatte seine Verblüffung viel schneller als wir überwunden und kam mit einem breiten, fast zahnlosem Grinsen und einem freundlich klingendem Wortschwall auf uns zu. Und nachdem er uns beiden die Hand geschüttelt hatte setzte er sich neben uns ans Bachufer.

 

 

 

Er war von unbestimmbarem Alter, das aber irgendwo zwischen siebzig und hundert liegen musste. Seinen Redestrom unterbrach er erst als er aus meinen Versuchen ihm klar zu machen, das wir ihn nicht verstanden, mehrmals das Wort „tysk“ - also deutsch – heraushörte.

 

 

 

Aber diese Pause sollte nicht von langer Dauer sein und in der Folge entspann sich ein interessanter Dialog der sich über eine Stunde lang hinzog. Bemerkenswert daran war vor allem, dass er weder ein Wort deutsch oder englisch sprach oder verstand und wir des Norwegischen – das durch seine fehlenden Zähne auch noch recht undeutlich herüber kam – nicht mächtig waren.

 

 

 

Aber immerhin hatten wir Hände und Füße mit denen wir uns verständigten und ein Stöckchen mit dem man kleine Zeichnungen in den Sand ritzen konnte war schnell gefunden.

 

Und so erfuhren wir in erstaunlich kurzer Zeit einiges über unseren „Gesprächspartner“.

 

Sein Name war Björn – was so viel wie Bär bedeutete – und das er früher mit einer Größe von 2,04 Meter und über 120 Kilogramm Gewicht dem Namen auch alle Ehre gemacht hatte. Jetzt aber sei er 82 Jahre alt – so alt wie wir beide zusammen – und er habe etwas abgenommen, meinte er schelmisch grinsend. Seinen Bauernhof habe er schon vor zwanzig Jahren an seien Sohn übergeben und sei danach jedes Jahr den ganzen Sommer lang – also immerhin vier Monate - auf den Seter gezogen um seiner Schwiegertochter, mit der er sich nicht so gut verstand, aus dem Wege zu gehen.

 

Meine Frau saß nur staunend daneben und wunderte sich wie man auf diese Art „unterhalten“ konnte. Sie verstand ja zumindest den Teil den ich zur Unterhaltung beitrug und ließ sich die Antworten meines Gesprächspartners erläutern. Und dies tat ich in dem ich ihr das erzählte , was ich verstanden zu haben glaubte.

 

 

 

Björn dagegen schien keinerlei Schwierigkeiten zu haben meinen Mischmasch aus Deutsch, Englisch und diversen Handzeichen und Skizzen im Sand zu verstehen. Zumindest tat er so. Manchmal hatte ich allerdings den Eindruck das wir einfach aneinander vorbei redeten und jeder von uns eigentlich einen Monolog führte.

 

Trotzdem war es ein angeregtes Gespräch. Unsere Namen hatte er zweifellos richtig verstanden, denn Christel ist auch in Norwegen ein durchaus gebräuchlicher Name und bei Ferdinand grinste er bis über beide Ohren und erinnerte sich an den „Tysken Kaiser“, wobei es mir sinnlos erschien ihn darauf aufmerksam zu machen das Ferdinand ja Kaiser von Österreich gewesen war.

 

Auch sonst schien er keinerlei Berührungsängste mit Deutschen zu haben, die noch bei vielen älteren Norwegern als Folge der Besetzung im Krieg anzutreffen waren. Im Gegenteil, er hatte scheinbar nur gute Erfahrungen mit unseren Landsleuten gemacht oder freute sich einfach nur darüber, dass er wieder einmal einen Gesprächspartner gefunden hatte.

 

 

 

Wir redeten über Gott und die Welt. Über Oslo und Kong Olaf, den König der Norweger, aber auch über Fußball und Beckenbauer, den „Kaiser von Tyskland“. Und er hatte sichtlich Spaß an unserer Unterhaltung die er aber dann nach über einer Stunde mit einer Geste des Bedauern beendete.

 

 

 

Ebenso plötzlich wie er aus seiner Hütte erschienen war verschwand er wieder darin. Nach einer kurzen Ruhe begann wieder das Rumoren und nach etwa zwei Minuten hörten wir das knatternde Starten eines Zweitaktmotors. Zu unserem großen Erstaunen flog plötzlich die Tür der Hütte auf und der „Herr des Berges“ raste mit einem Moped, an dessen Lenker, laut scheppernd, links und rechts eine große Milchkanne hing, den Berg weiter hinauf bis er in einer leichten Kurve aus unserem Blickfeld entschwand.

 

 

 

Noch heute fragen wir uns manchmal was er wirklich von unserem Gespräch verstanden hatte und auch was wir von dem was er uns erzählte richtig gedeutet haben.

 

 

 

Aber es war wirklich gute Unterhaltung.

 

 

 

Ferdinand Martin