Lieb und teuer?

 

Während unserer Lehrzeit mussten wir natürlich auch die Berufsschule besuchen. Die für uns Feinmechaniker und Werkzeugmacher zuständige Schule lag gar nicht weit von unserer Firma entfernt in der Hamburger Allee. Vielleicht schon ein kleiner Hinweis auf meinen heutigen Wohnort?

Ungefähr einen Kilometer weiter in Richtung Opel-Kreisel, dem Beginn der Schnellstraße nach Wiesbaden, befand sich die Frankfurter Niederlassung der Coca Cola – Werke.

Und dort hatte man sich eine geniale Marktstrategie einfallen lassen um neue junge Kunden für ihr damals einziges Produkt zu gewinnen.

Sie veranstalteten alle zwei Wochen am Freitagabend von 18 – 22 Uhr eine so genannte „Sockenparty“ bei der es kostenlos Coca Cola bis zum Abwinken gab und bei guter Musik vom Plattenteller getanzt wurde.

Sockenparty deshalb, weil wir die Kantine, in der das ganze stattfand und die einen wunderschönen Parkettfußboden hatte, nur auf Strümpfen betreten durften. Die Angestellten und Arbeiter die tagsüber den Raum bevölkerten, durften natürlich mit Schuhen hinein. Aber sie tanzten ja in ihren Arbeitspausen auch keinen wilden Rock`n Roll durch die Gänge zwischen den Tischen. Diese wurden selbstverständlich für die Partys zur Seite geräumt.

 

Schwierig war es allerdings an Karten für dieses Ereignis zu kommen. Normalerweise wurden sie an die umliegenden Berufsschulen und Oberstufen der Gymnasien verteilt. Man kann sich also ausrechnen wann der einzelne wieder einmal das Glück hatte eine der begehrten Karten zu bekommen, wenn jeweils dreihundert „Teenager“ eingeladen wurden, aber etwa fünftausend Jugendliche in Frage kamen.

 

Aber ich hatte ja meinen Freund Bernd-Otto, der schon immer alle möglichen Tricks auf Lager hatte um das zu erreichen was er erreichen wollte. Wir hatten uns schon immer gewundert warum er Feinmechaniker werden wollte. Er hatte ebenso wie ich den erfolglosen Versuch gemacht, eine weiterführende Schule zu besuchen. Er das Gymnasium und ich die Mittelschule. Aber nach einem Jahr waren wir wieder an die Uhlandschule zurückgekehrt. Beide an der eigenen Faulheit gescheitert. Als ich ihn übrigens zum vorerst letzten mal traf, war er übrigens Stationsmanager bei einem großen Autovermieter am Frankfurter Flughafen und hatte sich in dritter Ehe eine hübsche Lufthansa-Stewardess geangelt.

 

Damals machte er sich, oder wie man heute sagen würde, schleimte er sich an den Jugendbeauftragten der Coca Cola – Werke heran und versprach ihm, wir würden ihm einen Edelstahl-Grill bauen, wenn wir dafür alle zwei Wochen vier der begehrten Karten bekämen. Edelstahl war damals noch sehr teuer und wir wurden schnell handelseinig. Hinfort bekam er alle zwei Wochen Post mit jeweils zwei blauen Karten – für uns beide – und zwei rote Karten für unsere weibliche Begleitung, die wir dann generös verteilen konnten. Es war nämlich eine Vorgabe der Veranstalter, dass sich die Anzahl von Mädchen und Jungen die Waage hielten.

 

Apropos blau. Alkohol jeglicher Art war auf den Partys streng verboten. Es gab nur ein einziges Getränk und das war natürlich Coca Cola. Trotzdem gelang es B.O. immer wieder zwei kleine Taschenflaschen – so genannte Flachmänner – mit Whisky ein zu schleusen. Diese ließ er sich immer von seinem Vater besorgen, denn der arbeitete bei den amerikanischen Streitkräften in der PX, einem Kaufhaus in dem ausschließlich US-Soldaten und ihre Angehörigen einkaufen konnten.

B.O. lebte zwar bei seiner Großmutter – seine Eltern waren geschieden – holte sich aber bei beiden noch in Frankfurt lebenden Elternteilen ständig Taschengeld und alles andere was er sonst noch so brauchte ab. Wir anderen in unserer Clique hatten lediglich nur unseren Lohn als Lehrling, von dem manch einer noch etwas zu Hause abgeben musste. So konnte er sich auch den Whisky leisten. Und er war ständig besser gekleidet als wir anderen. Aber er war dadurch kein Außenseiter, denn er konnte teilen.

 

Auf einer dieser Partys, es muss so kurz nach meinem siebzehnten Geburtstag gewesen sein, lernte ich Gabriele kennen. Oder besser gesagt , wir lernten sie kennen. Denn eigentlich war B.O. Der große Aufreisser und Frauentyp, während ich eher schüchtern war. Ehrlich. Aber irgendwie hatte er in diesem Fall – wie es zunächst schien – die schlechteren Karten.

Gabriele war der Traum von einem Mädchen und war mir deshalb auch sofort aufgefallen als sie den Saal betrat. Die meisten Mädchen kamen immer zu zweit oder zu dritt, aber sie erschien alleine. Und das erst eine halbe Stunde nach beginn der Party. Es war ein regelrechter Auftritt. Und es war im wahrsten Sinne des Wortes eine Erscheinung.

Sie war etwa 1.80 m groß – also ungefähr so groß wie ich damals – hatte die langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und sah einfach himmlisch aus. Über einer weißen Bluse trug sie eine schwarze, bestickte Weste. Dazu einen schwarzen, gerade mal knielangen Rock mit mindesten drei Petticoats darunter und schwarze Lackschuhe. Ich war einfach hingerissen und glaube, dass ich sie mit staunend aufgerissenem Mund anstarrte.

Natürlich waren wir damals gänzlich anders angezogen als Jugendliche die heutzutage zu einer Tanzparty gehen. Nach heutigem Standard waren wir „overdressed“. Stoffhose, weißes Hemd mit Krawatte und Pullunder oder Weste nebst Sakko, dass auch bei heißestem Rock`n Roll nicht ausgezogen wurde, waren Pflicht. Bei den Mädchen waren Rock und Bluse oder ein Kleid angesagt. Hosen waren verpönt. Deshalb fiel sie keineswegs aus dem Rahmen. Trotzdem starrten wir sie alle an.

 

B.O. Ging es wohl wie den meisten Jungens. Trotzdem fasste er sich als erster, schlenderte in seiner betont lässigen Art zu ihr hinüber und forderte sie mit einer formvollendeten Verbeugung zum Tanz auf. Und holte sich einen Korb. Leicht säuerlich grinsend kam er zurück und murmelte etwas, dass so ähnlich klang wie:.....und ich krieg sie doch noch!

Eine Prophezeiung, die sich im Laufe des Abends und auch darüber hinaus als falsch erweisen sollte. Auch ein, im späteren Verlauf des Abends erfolgter, „Angriff“ mit seiner Whiskyflasche brachte ihm keinen Erfolg. Andere Jungs, die es in den nächsten zwanzig Minuten auch versuchten holten sich ebenfalls eine Abfuhr. Schon machte das Wort Zicke die Runde.

Bis zur Ankündigung der nächsten Damenwahl.

Fast der ganze Raum erstarrte und sah ihr neugierig nach als sie sich von der zur Bar umfunktionierten Essensausgabe abstieß und zielstrebig auf einen der Jungens zuging und ihn aufforderte.

 

Und das war ausgerechnet ich!

 

Es war mir einfach unerklärlich warum ihre Wahl nun unbedingt auf mich gefallen war. Es gab unter den anwesenden einhundertfünfzig Jungens mindesten achtzig die weitaus besser aussahen. Zu dieser Zeit war ich ein langer schlaksiger, um nicht zu sagen dürrer Lackel, der im allgemeinen nur „Langer“, „Bohnenstange“ oder „Lullatsch“ genannt wurde. Mein Benehmen war linkisch und Mädchen gegenüber war ich schüchtern und unbeholfen. Erfahrungen mit ihnen gleich null.

Und jetzt wurde ausgerechnet ich von dieser Traumfrau aufgefordert. Ich bekam sofort einen knallroten Kopf, zupfte verlegen meinem Schlips zurecht und nestelte nervös an meinen Manschetten herum, bevor ich sie, vorbei an einer Reihe von erstaunt offenstehenden Mündern, auf die Tanzfläche führte.

Erst hier verspürte ich etwas Erleichterung als mit voller Dröhnung „Rock around the clock“ erklang. Denn da war ich war ich in meinem Element. Das konnte ich und da machte mir so schnell keiner etwas vor. Und ich musste mich dabei nicht unterhalten. Die zweite Nummer war auch noch ein „Rock“ und gab mir noch eine Galgenfrist.

Aber dann folgte ein „Stehblues“, der leiser war, bei dem eng getanzt wurde und bei dem man sich unterhalten konnte und begreiflicherweise auch musste. Und damit hatte ich so meine Probleme. Zwar nicht mit den Engtanz aber mit der Konversation. Aber erstaunlicherweise ging es besser als ich erwartet oder befürchtet hatte. Wir führten ein sehr nettes Gespräch und zu meiner größten Überraschung forderte sie mich auf, den Rest des Abends mit ihr zu tanzen.

Ich fühlte mich wie im siebten Himmel und registrierte mit heimlichem Vergnügen die teilweisen neidischen Blicke der anderen Jungens. Als sie einmal „für kleine Mädchen“ war, meinte B.O. Nur ganz trocken: „Sie muss wohl eine Meise haben, dass sie den ganzen Abend nur mit dir tanzt, oder hast du heute ein besonderes Parfum benutzt?“

Du Spinner, du bist ja bloß neidisch.“ gab ich ihm zur Antwort und ließ ihn einfach stehen und ging wieder zu Gabriele, die gerade zurückgekommen war.

Wir hatten uns für die Tanzpausen in einer der Fensternischen eingenistet, saßen auf dem Fensterbrett, rauchten hin und wieder eine Zigarette und unterhielten uns angeregt. Dabei kehrten wir dem Saal den Rücken zu und beobachteten die auf der Straße vorbei fahrenden Autos.

Irgendwann, gegen Ende der Party, stellte ich dann auch die unvermeidliche Frage: „Darf ich sie nachher nach hause bringen?“

Der vielleicht erstaunte jüngere Leser fragt sich sicher: Wieso „Sie“? Es war damals nun mal unter „angehenden“ Erwachsenen üblich, zumindest dem anderen Geschlecht gegenüber.

Danke, aber ich wohne in Kronberg und ich bin mit meinem Auto hier.“

Mein – durch das Verschlingen von zahlreichen „Nick Knatterton – Comics“ - geschulter Verstand ließ mich sofort kombinieren: Erstens ist sie über achtzehn Jahre alt, sonst hätte sie keinen Führerschein. Zum Zweiten musste sie aus einem wohlhabenden Elternhaus stammen. Wie konnte sie sich sonst als Schülerin ein eigenes Auto leisten? Hierfür sprach auch die Tatsache, dass sie in Kronberg wohnte. Denn dort wohnten die meisten der Frankfurter Industrieellen und Bankmanager. Außerdem hatte sie mir schon vorher erzählt, dass sie ein Pferd besaß.

Die meisten von uns konnten sich gerade einmal ein gebrauchtes Moped leisten und als Haustier reichte es höchsten zu einem Kanarienvogel, einer Katze oder wenn es hoch kam zu einem Hund.

Viel später sollte ich erfahren, dass ich mit meinen Vermutungen recht hatte. Ihr Vater war ein bekannter Fabrikant der mit Kühlmaschinen, Kühlschränken und Autozubehör Millionen machte. Und sie war gerade achtzehn geworden und hatte von ihm einen nagelneuen VW-Käfer zum Geburtstag bekommen. Außerdem besuchte sie das beste Gymnasium in Frankfurt.

Da lagen Welten zwischen uns und mein Verstand hätte mir sagen müssen, dass ich die Finger von ihr lassen sollte. Aber was nützt einem der Verstand, wenn man so richtig verknallt ist.

Also fragte ich sie, ob man sich einmal wiedersehen könnte, und sie meinte: „Vielleicht trifft man sich ja wieder einmal hier oder wer weiß wo.“

An solche Zufälle glaubte ich nicht so recht. Zumal die Wahrscheinlichkeit – in Anbetracht der schon geschilderten Möglichkeit eine Karte zu bekommen – äußerst gering waren.

Aber dank der geschickten Karten-Organisation von B.O. lud ich sie zur nächsten Sockenparty in zwei Wochen ein, und zu meiner großen Freude sagte sie auch ihr Erscheinen zu.

So trafen wir uns im Laufe der nächsten zwei Monate noch vier mal bei Coca Cola bis sie den Vorschlag machte: „Wir können doch auch einmal zusammen Essen gehen.“

Und damit hatte ich wiederum ein Problem. Denn zum Essen war ich bisher höchstens einmal mit meinen Eltern in einem der vielen Äbbelwoi-Lokalen in Sachsenhausen oder bei Familien Ausflügen in den Taunus oder den Rheingau gewesen. Zwar hatte man mir zuhause gute Tischmanieren beigebracht, ob ich mich aber damit in der gehoben Gastronomie bewähren konnte, schien mir äußerst fraglich.

Und es kam so wie ich es befürchtet hatte. Sie wollte mich unbedingt einladen und bestimmte auch noch das Restaurant des Hotels „Frankfurter Hof“ - das beste Haus in ganz Frankfurt - als Ort meiner „Hinrichtung“.

 

An einem Samstagabend im Dezember holte sie mich mit ihrem Wagen am Domplatz, in der Nähe meiner elterlichen Wohnung, ab und kutschierte uns zum besagten Hotel. Dort angekommen suchte sie nicht etwa nach einem Parkplatz sondern fuhr am Haupteingang des Hotels vor. Der dort stehende Wagenmeister stürzte dienstbeflissen auf unseren Wagen zu, riss die Fahrertür auf und begrüßte sie mit einem freundlichen: „einen schönen guten Abend Fräulein T.“

Von mir, der ich inzwischen auch ausgestiegen war, nahm er kaum Notiz. Sie ließ ihm lässig den Wagenschlüssel in die geöffnete Hand fallen und er fuhr das Auto in die Hotelgarage.

Das konnte ja heiter werden. Im Restaurant angekommen wurde sie vom „Oberkellner“- heute nennt man ihn wohl Maitre de Hotel – auf die gleiche Art und Weise begrüßt und an unseren Tisch geführt. Und ich trottete wie ein anhänglicher Hund, der gnädigerweise zur Kenntnis genommen wurde hinterher.

Der ganze Abend wurde für mich zu einer peinlichen Angelegenheit, die sich über zwei Stunden und länger hinzog. Die ganze Zeit über wieselten dienstbare Geister wie Kellner und Somaliers um unseren Tisch herum und es hieß laufend: Fräulein T. hinten und Fräulein T. vorn. Hat es ihnen geschmeckt? Haben sie sonst noch einen Wunsch? Dürfen wir ihnen nach schenken?

Von mir wurde, wie hier scheinbar üblich, kaum Notiz genommen. Sie hätte ebenso alleine dort sitzen könne. Selbstverständlich gab sie auch die Bestellungen auf. Alles nach dem Motto, wer bezahlt bestimmt auch die Musik.

Nachdem sich das für mich grausame Spiel etwa zwei Stunden später dem Ende zuneigte und sie die Rechnung verlangt hatte, wurde diese unter einer Serviette verdeckt auf einem silberne Tablett an den Tisch gebracht und ihr vorgelegt. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das ganze hier mit einer Routine ablief, als sei das Stück schon öfter gespielt wurde. Nur der Nebendarsteller war ein anderer. Vielleicht jedes mal?

Als sie die Serviette kurz an lupfte, konnte ich die Endsumme erkennen. Sie lautete exakt 82.50 DM, das war in etwa der Betrag den ich ich als Lehrling im dritten Jahr im Monat verdiente. Sie legte einen Hundertmarkschein zu der Rechnung unter die Serviette. Das Tablett wurde umgehend abgeholt und nach kurzer Zeit mit dem Wechselgeld zurück gebracht.

 

Aber dieses schien sie gar nicht mehr zu interessieren, denn unmittelbar danach stand sie auf und ging Richtung Ausgang zur Garderobe. Mir blieb nichts anderes übrig als ihr zu folgen, und mich im Stillen zu wundern wie es jemand möglich sei, eben mal einfach so 17.50 DM als Trinkgeld liegen zu lassen. Aber jetzt wusste ich auch weshalb man sie hier so bevorzugt behandelte.

Nachdem wir an der Garderobe unsere Mäntel erhalten hatten - hier gab ich übrigens das Trinkgeld von fünfzig Pfennigen – warteten wir stumm auf der Straße auf ihren Wagen. Ich wollte mir eine Zigarette anzünden und stellte fest, dass ich mein Feuerzeug auf dem Tisch liegengelassen hatte. Als ich ihr sagte ich wolle es kurz holen, meinte sie trocken: „Sie haben das Tablett mit dem Trinkgeld schon längs abgeräumt. Du brachst dich also nicht zu beeilen.“

 

Das gab mir endgültig den Rest. Ich ließ das Feuerzeug liegen wo es war, schließlich war es ja nicht so teuer gewesen, drehte mich um und ließ sie einfach stehen und ging davon.

 

Ich habe sie nie wieder gesehen, aber nach etwa einer Woche brauchte ein Chauffeur in Uniform ein kleines Päckchen mit meinem Feuerzeug zu uns nachhause.