Die große Angst

 

Nicht viele Menschen, auch die die mich näher kennen, würden auf die Idee kommen mich für einen Angsthasen zu halten. Und doch bin ich wohl einer. Zwar habe ich nach außen hin meist eine große Klappe und zeige mich mutig, aber.....


Eigenartigerweise habe ich zum Beispiel keine Angst vor dem Tod, aber eine wahnsinnig höllische Angst vor körperlichen Schmerzen. Ein gravierendes Beispiel ist hier wohl meine Angst vor einem Zahnarztbesuch, der meist so weit hinaus geschoben wird, bis es fast zu spät ist.


Eine andere typische Geschichte meiner Angst erlebte ich als ich etwa zehn Jahre alt war. Wir wohnten inzwischen in der Frankfurter Innenstadt und ich besuchte die Uhland-Schule in der Ostendstraße.

Nach Schulschluss machte sich immer eine Horde von zehn Klassenkameraden auf den Heimweg in die Richtung in der auch ich wohnte. Und dieser führte selten auf dem direkten Weg nach Hause, sondern unterwegs wurde viel gespielt und getrödelt.


Es gab auf diesem Weg viele herrliche Spielplätze für zehnjährige Jungens. Trümmergrundstücke, auf denen man wunderbar Versteck spielen konnte. Aber dort wurden wir immer sehr schnell von Erwachsenen oder Bauarbeitern verjagt. Die Grünanlagen des Anlagenringes - dort wo sich früher eine mittelalterliche Stadtbefestigung befunden hatte - waren langweilig.


Deshalb entpuppte sich der alte Judenfriedhof am Börneplatz als unser idealer Abenteuerspielplatz. Im Osten war er durch die fensterlosen Brandmauern dreier viergeschossigen Häuser, die wie durch ein Wunder den Krieg überstanden hatten, begrenzt.

An den anderen drei Seiten versperrte eine zwei Meter hohe, grau verputzte dicke Mauer die Sicht auf das Gelände. Die einzigen Ausnahmen waren an jeder Seite ein altes altes verrostetes und versperrtes Eisentor. Und über eines davon kletterten wir in das Innere.


Drinnen beherrschten hohe, zum Teil uralte Bäume das Bild. Dazwischen waren Büsche und Sträucher, sowie wild auswuchernde alte Hecken. So dass beinahe der Eindruck eines echten Urwaldes entstand. Wären da nicht die alten Grabsteine gewesen, deren Anzahl bestimmt die Tausend überschritten, und die nur noch zum Teil an ihren ursprünglichen Plätzen standen. Viele waren umgestürzt, andere hatten sich nach vorne oder hinten geneigt. Ideale Plätze um sich zu verstecken oder um Räuber und Gendarm zu spielen.


Sicher war sich keiner von uns darüber so ganz im klaren, dass es verboten war hier zu spielen. Denn abgesehen von der Unfallgefahr war es schließlich ein "alter" Friedhof auf dem niemand mehr beerdigt wurde, Jedenfalls hatten wir nie etwas davon mitbekommen oder irgendwo frische Blumen entdeckt. Und an Pietät dachte von uns bestimmt keiner. Und trotzdem war es fast eine Mutprobe dort zu spielen, denn etwas unheimlich war der Ort schon.


Wenn wir also dort ankamen, kletterten wir über eines der Tore und versteckten unsere Schulranzen hinter einem großen Grabstein, der nach hinten gegen die Mauer gekippt war. Und dann begann die wilde Jagd. Dabei vergaßen wir oft die Zeit und wenn wir dann ein oder zwei Stunden zu spät nach Hause kamen, gab es bei einigen viel Ärger.


Nur mein Freund Bernd-Otto - kurz BO genannt - hatte damit nie Schwierigkeiten. Er wohnte nämlich direkt gegenüber in der Battonstraße, allein bei seiner Oma. Und die machte nie Alarm.

Richtig großen Ärger sollten wir aber alle eines Tages von einer ganz anderen Seite bekommen. Anscheinend war unser Treiben im Laufe der Wochen doch nicht so ganz unbemerkt geblieben. Seit Tagen hatten uns Anwohner der Battonstraße, die von ihrer Wohnung im zweiten Stock das Gelände überblicken konnten, beobachtet und die Polizei gerufen.


Wir waren so in unser Spiel vertieft, dass wir die zwei Polizeibeamten zunächst gar nicht bemerkten. Sie versuchten durch die Gitterstäbe des Tores zu ergründen was auf dem Friedhof stattfand.


Walter Seidel war der erste der sie bemerkte und einen Alarmruf ausstieß. Einer der Becker-Zwillinge fiel vor Schreck fast von einem Baum auf den er geklettert war. Sofort stoben wir in alle Himmelsrichtungen auseinander und es wäre für uns ein leichtes gewesen ihnen zu entkommen. Schließlich waren sie nur zu zweit und wir waren zehn.


Aber wie hätten wir zuhause erklären sollen warum wir ohne unsere Schulranzen nach Hause kommen? Denn inzwischen war der eine der Polizisten über das Tor geklettert und stand direkt neben dem Grabstein hinter dem unsere Sachen lagen und hatte sie bereits entdeckt.

Der andere Beamte blieb draußen vor dem Tor stehen und forderte uns auf aus unseren Verstecken hervorzukommen.


Zögernd schlichen wir einer nach dem anderen mit hängenden Köpfen herbei, schnappten unsere Ranzen und mussten einzeln über das Tor klettern und uns in einer Reihe aufstellen.

Nachdem der andere Polizist als letzter wieder draußen war ging es im Gänsemarsch zum Streifenwagen. In diesem Fall war es nicht der derzeit übliche VW-Käfer sondern der viel größere Borgward - Isabella in den wir verfrachtet wurden. Eigentlich war das mehr als die Polizei erlaubte; Zwei Erwachsene und zehn Jungen im Alter von zehn Jahren in einem Personenwagen. Und dazu noch die ganzen Schulranzen. Ganz schön eng.


Und ab ging die Fahrt zum Polizeirevier in der Langestraße. Dort mussten wir uns wieder in einer Reihe an der Wand aufstellen und der Streifenführer meldete dem Revierleiter: "Wir fanden die zehn hier auf dem alten Judenfriedhof als sie dort vor, hinter, neben, über und unter den Grabsteinen herum turnten."


Es dauerte über eine Stunde bis unsere Personalien auf genommen waren, denn der Polizist schrieb mit der Schreibmaschine etwa so flüssig wie ein zehnjähriger Schüler einen Aufsatz über eine Regierungserklärung eines Bundeskanzlers.


Dann wurden wir mit der Auflage entlassen, dass sich unsere Eltern binnen drei Tagen auf dem Revier zu melden hätten, ansonsten gäbe es eine Anzeige und wir kämen ins Gefängnis.

Eine Drohung, die bei mir die schlimmsten Schreckensbilder hervor riefen.


Doch zunächst gab es daheim erst einmal den befürchteten Ärger. Zwei Ohrfeigen von meiner Mutter und am Abend noch einmal eine Woche Stubenarrest vom Vater für drei Stunden zu spät aus der Schule kommen. Damit hatte ich zunächst genug zu tun und traute mich erst gar nicht davon zu erzählen dass jemand zur Polizei kommen musste.


Am nächsten Tag konnte noch keiner meiner zehn Schicksalsgenossen berichten was den Eltern von der Polizei erzählt worden war. Erst am Tag darauf berichteten die meisten, dass die Eltern ermahnt worden seien besser auf ihre Kinder aufzupassen.

Am letzten Tag des Ultimatums gingen die letzten Eltern meiner neun "Mittäter" zur Wache.


Nur von meiner Familie war noch niemand dort gewesen weil ich es aus lauter Angst vor weiteren Strafen noch nicht gebeichtet hatte.


Und nun war es ja ohnehin zu spät. Ich konnte kaum noch schlafen, denn morgen früh würde ja die Polizei kommen und mich ins Gefängnis bringen. Den ganzen Tag konnte ich mich nicht konzentrieren. Vielleicht kamen sie ja auch in die Schule um mich von dort abzuholen.

Am Nachmittag rückte ich sofort trotz Stubenarrest von zuhause aus und kam erst am Abend von der Straße zurück, weil ich glaubte die Polizei würde mich nicht finden wenn ich nicht da war.


Dieses mal gab es eine Tracht Prügel von meinem Vater. So ging es die nächsten drei Tage lang weiter. An einem dieser Tage hätte ich mir beinahe in die Hosen gemacht, denn ich wurde mitten aus dem Unterricht zum Rektor befohlen.


Jetzt ist es soweit, dachte ich, jetzt holen sie dich. Aber es gab nur eine Tadel weil ich mich in der großen Pause mit einem anderen Schüler gerauft hatte. Alles Nervensache.


Erst ab dem fünften Tag nach dem Ende des Ultimatums fing ich langsam an zu hoffen dass die Polizei es ganz einfach vergessen hatte, dass sich die Eltern des Schülers Ferdinand Martin noch nicht gemeldet hatten. Und es dauerte noch sehr lange bis aus dieser Hoffnung eine Gewissheit wurde.


Zum Schluss noch ein Wort über unsere damaligen Spiele auf dem alten Judenfriedhof in Frankfurt am Main. Wir Kinder waren damals - 1953 - zehn Jahre alt und konnten einfach noch nicht wissen warum auf diesem Friedhof schon seit Jahren keine Beerdigungen mehr stattgefunden hatten und warum hier niemand mehr Blumen niederlegte. Man hatte uns bis dahin weder im Elternhaus noch in der Schule überhaupt etwas über die jüngere deutsche Vergangenheit erzählt. Wahrscheinlich hätten wir es auch noch gar nicht begriffen.


Heute weiß ich, dass dieser Ort für alle Menschen jüdischen Glaubens eine heilige Stätte ist und möchte mich für unser damaliges Verhalten entschuldigen.



Ferdinand Martin