Der Tote Von Teufelsbrück

 

Kurzkrimi von Ferdinand Martin 

1

 

Ganz langsam, so wie das Auftauchen aus einer unendlichen Tiefe, kam Frank Mertens zu sich. Als erstes verspürte er eine dumpfen, pochenden Schmerz in seinem Schädel und zudem einen stechenden in seinem rechten Bein.

Den Schmerz im Bein kannte er schon seit langen Jahren, aber die Schmerzen im Kopf waren neu für ihn. Oder zumindest wieder neu.

Sein rechtes Bein war seit etwa zehn Jahren steif und schmerzte hin und wieder. Damals hatte ihm beim Entladen seines Schiffes im Hafen von Marstal auf der dänischen Ostseeinsel Aerö eine herabfallende schwere Holzkiste sein Knie zerschmettert.

Aber der Schmerz in seinem Kopf war etwas, was er lange nicht mehr und vor allem noch nie so stark erlebt hatte seit er keinen Alkohol mehr trank. Und gestern Abend war er wie immer in den letzten drei Jahren, vollkommen nüchtern gewesen. Das glaubte er zumindest, denn er konnte sich an rein gar nichts mehr erinnern.

Inzwischen hatte er die Augen aufgeschlagen und sich in dem Raum in dem er sich befand umgesehen. Es war eindeutig ein Zimmer in einem Krankenhaus. Und es war ein Einzelzimmer. Das konnte er sich gar nicht leisten dachte er, und seine Krankenkasse würde es bestimmt nicht bezahlen. Schließlich war er ja nur ein dreiundsechzigjähriger Frührentner und man wusste ja wie die "aus Berlin" in letzter Zeit mit den Alten und Kranken umgingen.


Als er seine Situation registriert hatte fuhr er erschrocken hoch. Stöhnend ließ er sich aber sofort wieder zurück sinken weil der Schmerz in seinem Kopf so stechend anschwoll als wolle er seinen Schädel sprengen.

Nach einer Weile, als der Schmerz etwas erträglicher wurde, versuchte er noch einmal - diesmal aber langsam - in eine sitzende Position zu kommen. Jetzt gelang es ihm. Und als er an sich herunter schaute , stellte er fest dass in der Vene seiner rechten Armbeuge eine Kanüle steckt. Diese war mit einem Tropf verbunden der über seinem Bett hing. Des weiteren führten diverse Drähte und Leitungen von seinem Körper zu verschiedenen Geräten die neben seinem Bett aufgebaut waren. Um seinen Kopf wand sich ein dicker Verband, den er nun langsam abtastete.

Übelkeit stieg in ihm auf. Nicht nur weil er sich aufgesetzt hatte, sondern auch weil er sich auf das Ganze keinen Reim machen konnte. Was war passiert? Und wie war er hier her gekommen?

 

 2



Er erinnerte sich, dass er gestern Morgen - oder war es heute Morgen - mit seinem Boot im kleinen Sportboothafen von Teufelsbrück angekommen war.

Sein Boot, ein elf Meter langer ehemaliger Ostseekutter, den er während seines damaligen Aufenthaltes im Krankenhaus von Marstal entdeckt hatte. Er sah das Schiff vom Fenster seines Krankenzimmers aus am Rande des Hafens vor sich hinrotten. Sofort hatte er sich in das alte Boot verliebt und vor seinem geistigen Auge gesehen was sich daraus machen ließe.

Obwohl schon über fünfzig Jahre alt, waren fast alle Planken noch intakt und stabil und selbst der alte MaK- Diesel machte noch den Eindruck als könne man ihn wieder zum Leben erwecken.

Das Boot war eines dieser Schiffe die in dem so wunderschönen Marstal-Riß in Klinkerbauweise gebaut worden waren, und für den sie im ganzen südlichen Ostseeraum bekannt waren.

Als  Mertens sich so langsam darüber im Klaren war, dass sein Bein für immer steif bleiben würde und er seinen Beruf als Steuermann aufgeben musste, entschloss er sich das Boot zu kaufen. Er wollte es zu einem Motorsegler umbauen. Und da er von nun an viel Freizeit hatte, würde er sogar noch einmal Kapitän werden. Wenn auch nur Freizeitkapitän.

Bei ihrem nächsten Besuch besprach er seine Pläne mit seiner Frau Christine und als sie damit  einverstanden war wechselte das Boot für damals dreihundert Mark den Besitzer.

Auch der Transport nach Hamburg bereitete keine größeren Schwierigkeiten, denn als sein Schiff nach drei Wochen wieder nach Marstal kam, wurde es einfach als Decksladung mitgenommen und in Hamburg-Finkenwerder in einer Bootslagerhalle aufgepalt.

Die nächsten drei Sommer verbrachte er dann damit aus der einfachen Holzschale einen wunderschönen Motorsegler zu bauen. Der Kiel wurde verstärkt um einen Mast setzen zu können. Er zimmerte ein Deck mit Aufbauten für das bis dahin offene Boot und baute zwei Kajüten mit insgesamt vier Kojen sowie einer Kombüse ein. Als krönenden Abschluss bekam das Boot noch zwei große Seitenschwerter, damit es, bei nur achtzig Zentimeter Tiefgang, überhaupt gesegelt werden konnte.

Es war ein richtiges Schmuckstück geworden und erregte allseits Aufsehen und Bewunderung.

Die nächsten vier Jahre befuhren seine Frau und er fast die ganzen Sommer die Elbe sowie die Nord- und Ostsee. Er war wieder glücklicher und zufriedener geworden und hatte sich mit seiner Behinderung abgefunden.

Bis ihn vor drei Jahren dann ein weiterer Schicksalsschlag traf. Christine, seine Frau war an Krebs erkrankt und innerhalb von nur vier Wochen gestorben. Nun kapselte er sich ganz ab. Er verkaufte sein Haus in Rahlstedt in dem seine Frau und er über dreißig Jahre gelebt hatten und schenkte das Geld seinen zwei verheirateten Kindern.


Er selbst mietete sich eine kleine Wohnung in Othmarschen. Hier war er näher am Wasser und bei seinem Boot. Von der Familie zog er sich fast ganz zurück, lehnte Einladungen von seinen Kindern und deren Familien ab. Zuletzt hatte er nur noch gelegentlichen Kontakt zu seiner nun zwanzigjährigen Enkeltochter Marion.

Nachdem er sich im ersten Jahr nach dem Tod von seiner Frau fast jeden Tag betrunken hatte, waren das Boot und seine Wohnung total verkommen und er war fast am Ende gewesen. Erst als der Gerichtsvollzieher vor seiner Tür stand und sein Boot, dass er nach seiner Frau Christine getauft hatte, pfänden wollte, riss er sich am sprichwörtlichen Riemen.

Nur mit größter Mühe gelang es ihm das Geld aufzutreiben um die Pfändung in letzter Minute zu verhindern. Bei seinen Kindern, die ihm mit Sicherheit geholfen hätten, traute er sich aus Scham nicht anzufragen. Schließlich war es Marion, die half ihm. Sie hatte gerade ihre Lehrzeit als Frisörin beendet und einiges an Geld gespart weil sie sich anschließend zur Maskenbildnerin fortbilden wollte.

Nachdem also die Gefahr des Verlustes zunächst gebannt war, brachte er das Boot wieder auf Vordermann und begann auch wieder damit zu fahren. Da er jetzt allein fahren musste - nach dem Tod von Christine wollte er keinen anderen Menschen an Bord haben - baute er die Bedienungen für Segel und Schwerter so um, dass er praktisch alles vom Cockpit aus steuern konnte. Faktisch ein idealer Einhandsegler.

Die letzten beiden Sommer über hatte er einmal im Monat einen einwöchigen Törn nach Helgoland unternommen um von dort, in perfekt getarnten Stauräumen des Bootes, zollfreien Alkohol und Zigaretten nach Hamburg zu schmuggeln. Diese Konterbande verscheuerte er dann in diversen Kneipen und an ehemalige Saufkumpane.

So ein Törn brachte ihm jedes mal einen Gewinn von etwa achthundert Euro ein. Damit konnte er dann seine Schulden bei Marion bald tilgen. Mit dem Zoll hatte er dabei überhaupt keine Schwierigkeiten. Diverse Beamte hatten schon mehrmals sein Boot durchsucht aber nie die geschickt eingebauten Verstecke gefunden, die es ihm ermöglichten bei jeder Tour zweihundert Flaschen Schnaps und einhunderttausend Zigaretten zu schmuggeln.


Und gestern morgen war er von seiner letzten Tour zurück gekommen.



 3



Das alles lief jetzt wie im Zeitraffer vor seinen geistigen Auge ab. Aber was war dann geschehen? An Gedächtnisschwund litt er scheinbar nicht. Aber wie war er hier her gekommen?

Langsam, ganz langsam drehte er den Kopf, und nach kurzem suchen hatte er den Rufknopf für die Schwestern gefunden. Und schon kurze Zeit nachdem er ihn gedrückt hatte öffnete sich die Tür und ein Arzt und zwei Krankenschwestern betraten das Zimmer.

Der Arzt hatte etwa seine Größe, also um die 1.90 m, war aber sowohl um die dreißig Kilogramm leichter als auch um etwa dreißig Jahre jünger als er. Die ältere seiner beiden Begleiterinnen - offenbar die Stationsschwester - ging ohne einen Blick auf den Patienten zu werfen direkt zu den Geräten um sie zu kontrollieren. Die Jüngere, etwa so alt wie seine Enkeltochter, musterte ihn neugierig mit eine leichten Lächeln.

"Mein Name ist Klaus Krieger," sagte der Arzt als er Frank Mertens die Hand gab: "und ich freue mich, dass sie wieder ansprechbar sind. Wie geht es ihnen im Moment? Haben sie große Schmerzen? Kann ich sie einmal kurz untersuchen?

" Das können sie gerne, aber erst wenn sie mir einige kurze Fragen beantwortet haben." erwiderte der ob des Redeschwalls verblüffte Mertens.

"Dann schießen sie mal los." lächelte der blonde Doktor und setzte sich auf den Rand des Bettes..

"Was ist passiert? Wo bin ich hier? Wie bin ich hier her gekommen? Und vor allen Dingen was ist mit meinem Kopf los?"

"Also der Reihe nach," sagte Doktor Krieger, während er gleichzeitig des rechte Augenlid des Patienten anhob. " Sie sind hier im Krankenhaus Altona und haben einen Schädelbasisbruch sowie eine schwere Gehirnerschütterung. Sie haben vermutlich einen ziemlich harten Schlag auf den Kopf bekommen. Aber was genau passiert ist, das würden wir und vor allem auch die Polizei, die sie übrigens hierher gebracht hat, gerne von ihnen wissen."

"Und genau das weiß ich nicht." antwortete Mertens während er sich seine Finger betrachtete, deren Kuppen alle merkwürdig dunkel verfärbt waren: "Ich bin gestern Morgen mit meinem Boot in..."

"Halt! Stopp!" unterbrach ihn der Arzt: "Gestern Morgen lagen sie hier friedlich in ihrem Bett und waren in einer tiefen Bewusstlosigkeit. Heute ist Donnerstag und sie wurden schon am Sonntag bei uns eingeliefert."

"Fünf Tage!" stöhnte Mertens und war noch irritierter als es bisher der Fall gewesen war.

"Na wenigsten das Rechnen klappt schon wieder," sagte der Doktor beim Aufstehen, gab ihm die Hand und wandte sich an die ältere der beiden Schwestern: "Schwester Irmgard wird ihnen jetzt eine leichte Beruhigungsspritze geben, die sie sicher gut gebrauchen können. Denn die Polizei will jetzt mit ihnen sprechen."

 

 4

 

Als er die Tür öffnete kamen direkt zwei in Zivil gekleidete Männer ins Zimmer gestürmt, zu denen er noch einmal eindringlich sagte: " Aber wie gesagt, meine Herren, nur fünf Minuten. Mehr verkraftet er heute noch nicht."

Dann verließ er gefolgt von den beiden Schwestern das Krankenzimmer.

"Ich bin Hauptkommissar Manthey von der Mordkommission," stellte sich der erste der beiden Männer vor, "und das ist mein Kollege Pancke. Wir haben ein paar Fragen an sie. Sie sollten sie uns ehrlich beantworten, denn das könnte ihre Lage verbessern."

Wie von der Mordkommision  - dachte Mertens noch belustigt - sahen die beiden bestimmt nicht aus, und er verglich sie im Stillen mit Manfred Krug und Charles Brauer die früher hier in Hamburg die "Tatort-Kommissare" gespielt hatten. Aber zum Glück sangen sie nicht auch noch.


Aber dann wurde er plötzlich ernst.

"Mordkommission?" wollte er wissen, wieso Mordkommission? Was ist denn überhaupt passiert?

Pancke, der am Fenster stand, klappte umständlich sein Notizbuch auf, blätterte einen Moment darin herum und schnarrte dann: "Sie wurden am Sonntag den 14.August 2011 um 9.34 Uhr bewusstlos vom Hafenmeister in Teufelsbrück an Deck ihres Schiffes gefunden. Und neben ihnen lag eine männliche Leiche. Erstochen! Und zwar mit ihrem Bootsmesser auf dem nur ihre Fingerabdrücke zu finden waren. Leugnen ist deshalb zwecklos. Was haben sie zu sagen?"

"Nichts, rein gar nichts. Ich kann mich an nichts erinnern!"

"Kennen sie, oder besser gesagt, kannten sie einen gewissen Erwin Kretschmann?" fragte Manthey, der sich auf der anderen Seite des Bettes aufgepflanzt hatte.

"Nein, völlig unbekannt." antwortete Mertens, "Aber woher wollen sie wissen dass es mein Messer war mit dem der Tote gefunden wurde?"

"Weil ihr Name und der Name ihres Bootes darauf eingraviert sind!" tönte es höhnisch vom Fenster her.

"Und es sind ihre Fingerabdrücke darauf!" bellte Manthay von links,: "Und zwar nur ihre!"


Deshalb also die schwarzen Finger, dachte er. Sie hatten ihm scheinbar während er hier bewusstlos lag, die Fingerabdrücke abgenommen. Und das Messer hatte er vor acht Jahren, als er fünfundfünfzig wurde von seiner Frau zum Geburtstag geschenkt bekommen.

Mertens wurde es schwindelig. In seinem Kopf drehte sich alles und er versuchte krampfhaft sich zu erinnern. Aber immer wieder kam er nur bis zum Anlegen am Sonntagmorgen in Teufelbrück. Sollte er tatsächlich einen Menschen ermordet haben? Einen Menschen den er gar nicht kannte?

Entsetzen spiegelte sich auf seinem Gesicht wieder und er sah noch wie sich die beiden Polizisten über sein Bett hinweg triumphierend ansahen, als er gerade in eine ihn fast erleichternde Bewusstlosigkeit zurück sank.

 

 5

 

Dass es inzwischen draußen dunkel geworden war bemerkte er als erstes als er wieder zu sich kam. Und dass die Polizisten weg waren. Aber was nun? Zögernd drückte er auf den Schwesternruf und unmittelbar darauf wurde die Tür aufgerissen. Ein uniformierter Polizist baute sich im Türrahmen auf und fragte barsch: "Was ist los?"

Aber noch bevor Mertens antworten konnte wurde der Mann beiseite geschoben und eine recht resolute, stämmige Schwester kam herein und fuhr ihn eben so grob an: "Machen sie dass sie hier raus kommen. Das hier ist meine Job. Setzen sie sich wieder draußen auf ihren Stuhl und lesen weiter in ihrer Bild-Zeitung. Ich rufe sie schon wenn ich sie brauche."

Dann drehte sie sich um, lächelte Mertens mit einem Augenzwinkern fröhlich an und sagte: "Na min Jung, ich bin Birgit, die Nachtschwester, was kann ich für dich tun?"

Min Jung, dabei war sie etwa halb so alt wie er und hätte glatt seine Tochter sein können.

"Hunger habe ich, einen Bärenhunger," antwortete er, "Ein Steak und eine Zigarette könnte ich gebrauchen."

"Kannste dir beides abschminken," meinte sie lakonisch: "lediglich ne Hühnerbrühe is drin.  Alles andere käme bestimmt sofort wieder da raus wo du es gerade reingeschoben hättest."


Also einigten sie sich auf die Hühnerbrühe. Was blieb ihm anders übrig. Aber davon nach und nach drei große Tassen. Als sie diese dann im Abstand von je einer halben Stunde brachte, erzählte sie ihm einiges von dem, was während seiner Bewustlosigkeit geschehen war. Das meiste kannte sie zwar auch nur vom Hörensagen weil ihr Dienst erst um 19.00 Uhr begonnen hatte.

Aber der Buschfunk im Krankenhaus funktionierte sehr gut und so wußte sie zu berichten, dass die Polizei ihn tatsächlich für den Mörder hielt. Deshalb auch der Polizist vor seiner Tür, der niemanden raus oder rein lassen sollte.

Natürlich hatte es sich in Windeseile in fast allen Stationen herumgesprochen, dass auf Zimmer 615 ein Mörder liegen soll. Und es wurden sogar schon unter dem Personal und den anderen Patienten Wetten abgeschlossen ob er es gewesen ist oder nicht.

"Um dich zu beruhigen, min Jung," erzählte sie ihm: "die Wetten stehen 70:30 dass du es nicht warst" Und sie fügte noch hinzu: "Die Bullen sind doch so blöd!"

Dann ließ sie ihn für den Rest der Nacht allein. Von einer unweit des Krankenhauses gelegenen Kirche hörte er die Turmuhr Mitternacht schlagen.

 

 6


Und er fing an zu grübeln,. Ganz langsam fing die Maschinerie hinter seiner Stirn wieder an zu arbeiten. Und nach einer ganzen Weile kam er als erstes dahinter, dass sich in die Denkweise der Polizei ein riesiger Fehler eingeschlichen hatte. Und die beiden Kommissare wollten oder konnten ihn nicht entdecken.


Denn entweder hatte er den Mann zuerst erstochen und der Tote hatte ihn dann niedergeschlagen, oder er wurde zu erst niedergeschlagen und hat dann als Bewusstloser den anderen erstochen!


Da beides unmöglich war, musste also eine dritte Person in die Sache verwickelt gewesen sein. Und es ergab sich für ihn kein Motiv. Das stand zumindest fest. Wenigsten für ihn.


Und so ganz langsam kam auch das Erinnerungsvermögen zurück. Auf einmal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er erinnerte sich, was er am Sonnabend auf der Elbe querab von Glückstadt erlebt hatte.

Im letzten Licht der untergehenden Sonne hatte er an Backbord, etwa zehn Meter neben seinem Boot, zwei signalrote Fender treiben sehen, die offenbar miteinander verbunden waren. Und da man nie genug Fender haben konnte hatte er beigedreht und sie an Bord gehievt.

Zu seinem großen Erstaunen hing ein etwa zwanzig Kilogramm schwerer, wasserdicht verklebter Gummisack an den Fendern, die praktisch als Schwimmkörper verwendet worden waren.


Da er allein an Bord war und das Boot keinen Autopilot besaß, hatte er beschlossen sich die Sache am nächsten Morgen im Hafen genauer anzusehen. Deshalb hatte er das Ganze im Cockpit liegen gelassen. Nach und nach reihten sich immer mehr Bilder aneinander. Er glaubte sich zu erinnern in der Folgezeit nach der Bergung seines Fundes mehrmals ein Motorengeräusch eines starken Außenbordmotors gehört zu haben.

Aber diesem Umstand hatte er wenig Beachtung geschenkt denn schließlich war die Unterelbe zwischen Hamburg und der Nordsee eine vielbefahrene Wasserstraße. Außer der Berufsschifffahrt gab es besonders an den Wochenenden viele Freizeitskipper und Angler die auch nachts unterwegs waren. Obwohl es ihn innerlich schüttelte wenn er daran dachte, dass jemand einen Fisch aus dieser graubraunen Brühe essen könnte. Aber jedem das seine.


Er erinnerte sich daran, dass ihm kurz vor Blankenese auf der anderen Flussseite Dieter Schmols - sein Stegnachbar aus Teufelsbrück - elbabwärts entgegen gekommen war. Man hatte sich kurz zugewunken und Mast und Schotbruch gewünscht bevor sie sich im Frühdunst aus den Augen verloren. Beim Einlaufen in den kleinen Hafen von Teufelsbrück hatte er - wie gewöhnlich - nach der kleinen hölzernen Teufelsfigur geschaut. Sie war noch an Ort und Stelle. Früher stand hier einmal eine Bronzefigur, aber die war mehrmals von Metalldieben abgesägt und gestohlen worden.

Das letzte Mosaiksteinchen fand er am Morgen um kurz nach sechs. Schwester Birgit hatte noch einmal herein geschaut und ihm ein Becher Kaffee gebracht, "echten Bohnenkaffee" und keine "Patientenbrühe", wie sie extra bemerkte und verabschiedete sich mit: "Kopf hoch min Jung, bis heute Abend."

Vielleicht war es der Kaffee, der ihm half die letzte Erinnerungslücke zu schließen. Denn auf einmal sah er ganz deutlich ein Gesicht vor sich. Zwar nur für einen Sekundenbruchteil, aber ganz deutlich. Er hatte gerade sein Boot festgemacht und war dabei das Deck aufzuklaren als das Gesicht plötzlich an der Wasserseite über die Reling schaute. Und dann war sein Kopf explodiert......


Mertens wurde ganz aufgeregt. Er war bekannt dafür, dass er ein fast unheimliches Gedächtnis für Gesichter hatte. Ein früherer Kapitän von ihm hatte es vor vielen Jahren einmal so beschrieben: "Der Mertens hat ein Gedächtnis für Gesichter dass er dir noch nach Jahrzehnten sagen kann welches gottverdammte Paviangesicht zu welchem gottverdammten Pavianarsch gehört und an welchem gottverdammten Fleck dieser gottverdammten Erde er es gesehen hat!"

Er schien irgendwie ein Problem mit Gott zu haben.

 

 7



So kurz vor seinem Ziel, sich an alles zu erinnern und die Sache zu klären wurde der Tag für ihn zu einem Martyrium. Stundenlang quälte er sich damit, sich zu erinnern woher er das Gesicht kannte und wo er es schon einmal gesehen hatte. Und gesehen hatte er es schon einmal, dessen war er sich ganz sicher. Immer wieder fiel er zwischenzeitlich in einen unruhigen Schlaf um dann plötzlich aufzuschrecken wenn jemand den Raum betrat. Und er hatte viel Besuch an diesem Tag. Sogar der Professor setzte überraschend eine Chef-Visite an um den berühmt berüchtigten Patienten zu sehen. Gleich vier mal waren die Herren Manthey und Pancke bei ihm, hörten sich seine Geschichte an, aber schenkten ihm keinen Glauben. Für sie war er der Täter und sie erklärtem ihm, dass sie einen Haftbefehl gegen ihn beantragt hätten.

Auch alle Schwestern und Pfleger der Früh- und Spätschicht waren mindestens einmal während ihres Dienstes in seinem Zimmer gewesen und hatten ihn - zum Teil - neugierig angestarrt. Viele von ihnen hatten aber auch ein paar tröstende Worte für ihn übrig.

Aber das alles half ihm nicht wirklich. Der Groschen wollte einfach nicht fallen. Und so war es schon wieder Abend geworden und er war in eine Lethargie verfallen.


Teilnahmslos starrte er auf das an der Decke hängende Fernsehgerät, dass eine mitleidige Schwester angestellt hatte. Der Polizist vor der Tür - inzwischen ein anderer Beamter, der nicht so unfreundlich war - hatte es nach längerer Debatte erlaubt, wenn der Ton ausgeschaltet bliebe.

Plötzlich riss es ihn hoch. Kerzengerade im Bett sitzend und nicht auf die Schmerzen achtend starrte er gebannt auf den Bildschirm. Dort lief gerade der Vorspann zu einer Folge der Serie "Großstadtrevier und jetzt wusste er, wo er dieses verdammte Gesicht schon einmal gesehen hatte. Eine der ersten Folgen dieser Serie war vor fünfunddreißig Jahren zum Teil im Fischgeschäft seiner Schwiegermutter in Tonndorf gedreht worden. Der Laden lag direkt neben dem Studio Hamburg und wurde deshalb öfters für kleine Szenen in verschiedenen Filmen genutzt.

Er konnte sich genau daran erinnern, weil ihm der Mann dem dieses Gesicht gehörte, besonders aufgefallen war. Er spielte in einer Statistenrolle einen Streifenpolizisten wozu er weder das Talent noch das Aussehen besaß. Er sah eher wie ein Ganove aus, und Mertens war jetzt auch fest davon überzeugt, dass er auch einer war.


Nun wollte er unbedingt telefonieren. Er musste dringend mit seiner Enkeltochter Marion sprechen, die ja im Studio Hamburg ihre Ausbildung zur Maskenbildnerin machte. Sie würde ihm bestimmt weiter helfen können weil sie vielleicht die richtigen Leute kannte.

Aber die Polizei hatte es verboten und der Wachhund vor der Tür sorgte dafür, dass dieses Verbot auch eingehalten wurde. Und die beiden Kriminalbeamten ließen ausrichten, sie hätten jetzt Feierabend und seine Spinnereien könnten auch bis morgen warten.

Erst gegen zwanzig Uhr nahte Hilfe. Und zwar in Gestalt von Schwester Birgit, die gerade ihren Nachtdienst angetreten hatte. Aufgeregt und hastig erzählte er ihr die ganze Geschichte und bat sie seine Enkeltochter anzurufen. Was sie auch zu tun versprach.

Zwanzig Minuten später meldete sie Vollzug und sagte ihm, die Sache sei nun in den besten Händen.

Es wurde wieder eine lange Nacht, in der er fast ständig wach lag und auf die Geräusche im Flur lauschte. Ein Schlafmittel hatte er abgelehnt und von Beruhigungsmitteln wollte er auch nichts mehr wissen.

Schließlich war er doch in einen leichten Dämmerschlaf gesunken, als um halb vier Uhr morgens die Tür aufgerissen wurde und Dr. Krieger gefolgt von Schwester Birgit und einer weiteren Schwester ins Zimmer gestürmt kamen. Alle drei hatten grüne OP-Kittel an und die zweite Schwester hatte sogal einen Mundschutz über die untere Hälfte ihres Gesichtes gezogen.

"Was ist los? Was passiert nun? fragte der verblüffte Polizist von der Tür her.

"Wir müssen ihn sofort in den OP bringen," antwortete der Arzt: "Es besteht der Verdacht eines Blutgerinnsels im Gehirn!"

Vollkommen entsetzt schaute Mertens die Nachtschwester an, die aber leicht den Kopf schüttelte und ihm zuzwinkerte. Im Eiltempo wurde er mit seinem Bett zum Aufzug geschoben und in die erste Etage gebracht. Der Polizist immer eifrig hinterher bis Dr. Krieger ihm vor dem OP-Bereich bedeutete dass hier für ihn Endstation sei.


Im Vorraum der OP-Räume schaute sich Mertens gerade fragend um, als die zweite Schwester ihren Mundschutz abnahm, sich zu ihm herunter beugte. Sie küsste ihn auf die Stirn und sagte leise: "Hallo Opa, keine Angst, es wird alles wieder gut. Dabei fielen ihm zwei große Tränen auf sein erstauntes Gesicht.

 

 8

 

Sie deutete auf drei Männer die im Hintergrund standen und sich an einem Fernsehgerät zu schaffen machten. "Das ist Herr Dr. Leverenz, dein Rechtsanwalt sowie Herr Schweitzer und Herr Donner von der TV-Produktion die das Großstadtrevier dreht, bei der auch ich zur Zeit arbeite. Wir haben den entsprechenden Film dabei und Herr Schweitzer hat auch die Besetzungslisten mit. Damit wir auch gleich den Namen herausfinden können."

Mit Spannung blickte er auf den Bildschirm auf dem jetzt der Film ablief. Herr Donner hatte ihm schon so weit vor laufen lassen, dass man zu Beginn gleich die Szene im Fischladen sah. Schon bei der zweiten Einstellung der Kamera erkannte Mertens das Gesicht und rief aufgeregt: "Halt, das ist er!"

"Sind sie sich auch ganz sicher?" fragte ihn Dr. Leverenz. Aber für Mertens gab es keine Zweifel mehr.

Während Schweitzer den Namen aus der Besetzungsliste heraussuchte griff der Anwalt schon zum Telefon und ließ sich mit dem diensthabenden Staatsanwalt verbinden.

Unterdessen hatte Dr. Krieger Schwester Birgit und Marion ein Zeichen gegeben und die zwei fuhren - ihn an dem verblüfften Polizisten vorbei - wieder auf sein Zimmer.

Dort angekommen gab ihm die Nachtschwester unvermittelt eine Spritze und meine dazu: "So min Jung, wat mutt dat mutt. Jetzt wirst du erst einmal ein paar Stunden schlafen. Du hattest jetzt Aufregung genug. Marion kann ja bei dir Wache halten damit du nicht wieder auf dumme Gedanken kommst. Und ich, ich habe schließlich auch noch andere Patienten. Wenn auch nicht so aufregende." Sprachs und verschwand.

 

 9



Als Mertens wieder wach wurde sah er sich erstaunt um. Es war nicht mehr das Einzelzimmer in dem er zuletzt unfreiwillig eingeschlafen war. Sondern jetzt lag er in einem Dreibettzimmer und drei Menschen saßen oder standen um sein Bett herum. Marion, etwas müde aber hoch erfreut dass er erwacht war saß noch immer an seinem Bett und hielt seine Hand. Neben ihr saß seine Tochter Cordula und auf der anderen Seite stand sein Sohn Klaus.


"Hallo Opa, willkommen nach fast dreißig Stunden Heilschlaf." übernahm Marion das Kommando und begann zu erzählen: "Du hattest recht Opa, der Kerl war es. Er heißt übrigens Jens Gregor und ist wirklich ein mieser Schauspieler. Nicht einmal zehn Minuten hat er seine Rolle als Unschuldslamm bei der Polizei durch gehalten. Für die war er längst kein Unbekannter mehr. Das Rauschgiftdezernat hatte ihn schon lange auf dem Kieker, konnte ihm aber nie etwas nachweisen. Durch deine Hilfe ist es ihnen jetzt gelungen. Das Paket, dass du aus der Elbe gefischt hattest enthielt zwanzig Kilogramm reines Heroin. Die Belmondo, ein Frachter unter Panama-Flagge hatte es an einer bestimmten Stelle über Bord geworfen und der Ermordete und er wollten es gerade auffischen, als du ihnen zuvor kamst. Sie verfolgten dich mit ihrem Boot und in Teufelsbrück schlug dich Erwin Kretschmer von hinten nieder.

Anschließend wurde er selbst von Jens Gregor erstochen, weil dieser ihn schon lange loswerden wollte. Gregor hielt ihn für einen unsicheren Kantonisten und wollte in Zukunft die Geschäfte gerne allein machen. Und nun war die Situation günstig und er hoffte den Mord dir in die Schuhe schieben zu können. 

Er hat inzwischen die Tat gestanden und das Herroin herausgegeben. Und natürlich hat die Polizei  auch deine Schmuggelware entdeckt. Sie hielten Kretschmer für deinen Mittäter und Streitigkeiten zwischen euch für das Tatmotiv.


Und du hast zum Schluss auch noch doppeltes Glück gehabt. Nicht nur, dass deine Unschuld bewiesen wurde, sondern dein Anwalt hat der Polizei weis gemacht, dass das deine erste Schmuggelfahrt gewesen ist und dass du ein schwerer Alkoholiker und starker Raucher bist und du die Sachen nur für den Eigengebrauch geschmuggelt hast. Wieso sie das geglaubt haben, verstehe ich im Leben nicht. Aber die beiden sind eh nicht die hellsten"


Sein Sohn sah ihn an, griente und schüttelte nur den Kopf.

"Um eine Haftstrafe wirst damit wohl herum kommen," fuhr Marion fort: "aber eine saftige Geldstrafe und eine dicke Steuernachzahlung wirst du sicher als Quittung bekommen."

Sie strahlte ihn an und lachte, als freue sie sich darüber.


"Alles schön und gut," brummte er zerknirscht, "aber kann mir mal jemand verraten warum ich nicht mehr in dem schönen Einzelzimmer liege?"

"Das ist ganz einfach," klärte Marion ihn auf: "Du bist aus der Untersuchungshaft entlassen und ab jetzt zahlt wieder die AOK für dich. Und da ist die erste Klasse nicht drin.





Personen und Handlung sind frei erfunden, Namen sind Schall und Rauch.. Und sollten sie jemanden kennen der den Figuren ähnlich ist, haben wir vielleicht die gleiche Fantasie. Welch ein Zufall

Ferdinand Martin