Schule und Ferien in Langerwehe

 

Viele meiner Ferien während meiner Schulzeit verbrachte ich – wenn nicht gerade Camping auf Sylt angesagt war – bei meinen Großeltern auf dem Land. Sie lebten in Langerwehe, einem kleinen Ort zwischen Köln und Aachen. Es war einer meiner Lieblingsorte für Ferien. Denn Oma war bei weitem nicht so streng wie meine Eltern und kochte meistens meine Leibgerichte wenn sie mit denen von Opa überein stimmten. Und das taten sie fast immer. Außerdem gab es abends, wenn Opa von der Arbeit nach hause kam, meistens „Hasenbrot“ Heute kann man es sich kaum vorstellen was daran so köstlich gewesen sein soll. Es war eine doppelte Scheibe Brot, die meist mit einfacher Wurst belegt und den ganzen Tag in einer Blechdose eingesperrt war. Aber am Abend wurde sie von mir mit Heißhunger verspeist. Und es war eine große Enttäuschung wenn Opa mal kein „Hasenbrot“ mit nach hause brachte.

 

Aber das war noch nicht alles, was mich immer wieder nach Langerwehe zog. Ich hatte dort viele Freunde, die teilweise schon lange vor meiner Ankunft bei meinen Großeltern anfragten, wann ich denn endlich kommen würde. Einmal, es war im Sommer 1951, ging ich sogar ein halbes Jahr in Langerwehe zur Schule weil man der Meinung war, dass ich zu lang, zu dünn und chronisch unterernährt sei und mir die gute Landluft sicher helfen würde. War aber Fehlanzeige, denn nach dem halben Jahr sah ich noch genau so aus wie zuvor, nur braun gebrannt und strohblond.

 

Aber ich hatte einen schönen Sommer mit meinen Freunden gehabt, mit denen ich sonst nur in den Ferien zusammen gekommen war. In der Schule hatte ich Narrenfreiheit weil die Lehrpläne – falls es damals überhaupt schon welche gab – von Hessen und Nordrhein-Westfalen nicht überein stimmten.

In den meisten Fächern war ich weiter als meine neuen Klassenkameraden. Aber in einer Sache, die mit dem wahren Leben zusammen hing, waren sie mir über. Das belegt am besten ein Erlebnis, an dem ich noch lange zu knabbern hatte. An einem Nachmittag nach der Schule besuchte ich meine Tante Gisela die auch in Langerwehe wohnte. Sie ist die elf Jahre jüngere Schwester meiner Mutter und somit nur neun Jahre älter als ich. Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis und meist viel Spaß miteinander. An diesem Nachmittag kam ich also von der Schule zu ihr um dort zu essen weil Oma in die Kreisstadt zum Arzt gefahren war.

Ganz aufgeregt gab ich ihr folgendes Rätsel auf, dass ich auf dem Schulhof von meinen Mitschülern gehört hatte.

Was ist der Unterschied zwischen einer Telegrafenleitung und einem Sofa?“

Natürlich kannte sie die Lösung nicht und so verkündigte ich voller Stolz über mein neu erworbenes Wissen: „Auf einer Telegrafenleitung paaren sich die Vögel, und auf einem Sofa vögeln die Paare.“

Was dann folgte dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Meine Tante Gisela lief rot an, holte mit der rechten Hand aus, und klatsch, hatte ich eine Ohrfeige gefangen die mich ganz verblüfft dastehen ließ.

Das bestätigte wieder einmal, dass ich mit den Frauen in meiner Familie nicht so richtig zurecht kam. Schon wieder eine Ohrfeige aus dieser Ecke. Sie hatte mich noch nie geschlagen und es dauerte eine sehr lange Zeit bis ich begriff warum ich diese Schelle gefangen hatte. Man war halt noch sehr prüde damals – zumindest in Erwachsenenkreisen. Und das vögeln für einen achtjährigen ein „schlimmes“ Wort war und was es bedeutete erfuhr ich erst viel, viel später. Da war die Landjugend mir weit voraus.

 

Aber zurück zur Schule. Obwohl die Kinder dort Hochdeutsch sprechen sollten, redeten sie meist in ihrem Dialekt den ich zwar gut verstand aber selbst nicht sprach. Und dann war ich auch noch evangelisch und nicht wie alle anderen in der Klasse Katholik. Also war ich irgendwie ein Exot. Das ging sogar so weit, dass mir die Schule für dieses Halbjahr noch nicht einmal ein Zeugnis ausstellte. Aber damit konnte ich leben.

 

Denn dafür waren die Nachmittage und die Ferienzeiten das reinste Abenteuerleben. Da ging es dann meistens auf den Bauhof von Breuers, eine kleine Firma die das Umland mit Baustoffen aller Art versorgte. Franz, der ältere Bruder meines besten Freundes Rudi, war dort Fahrer und nahm uns immer mit auf Auslieferungstour. Bei diese Touren lernte ich die ganze Gegend zwischen Düren und Aachen und Kornelimünster und Jülich kennen. Manchmal fuhren wir sogar mit einem der Chefs mit dem großen Lastzug bis nach Andernach und Remagen um eine Ladung Steine zu holen.

Das aufregendste und liebste Erlebnis bei all meinen Aufenthalten in Langerwehe aber war zweifellos Hexe, der braune Langhaardackel meiner Oma. Ich sage bewusst nicht meiner Großeltern, sondern sie war der Hund meiner Oma, auf den sie total fixiert war. Mit Ausnahme der Zeiten wenn meine Mutter oder ich zu Besuch waren. Denn dann war sogar meine Oma bei ihr abgemeldet, von Opa ganz zu schweigen.

Das fing schon an wenn mein Großvater zum Bahnhof ging um uns oder einen von uns abzuholen. Irgendwie schien das Tier zu spüren oder zu verstehen was da vor sich ging. Am liebsten wäre sie mit mit meinem Großvater zum Bahnhof gerannt um uns zu begrüßen.

Aber das konnte sich mein Großvater nach einem besonderen Vorfall nicht mehr erlauben. Da hatte er nämlich Hexe mitgenommen als er meine Mutter nach einem Besuch zum Bahnhof brachte. Nachdem meine Mutter eingestiegen war und der Zug sich langsam in Bewegung gesetzt hatte riss sich der Hund los und lief zwischen den Gleisen entlang dem Zug hinter her. Mein Großvater konnte ihm nicht folgen und stand zunächst einmal eine Zeitlang völlig ratlos da.

Endlich besann er sich darauf, dass er doch in der Gemeinde und im Landkreis zur Prominenz gehörte und er auch etwas bewegen konnte. Schließlich war er ja der Amtsbürgermeister. Entschlossen ging er also zum Bahnhofsvorsteher. Der gleichzeitig der Mann mit der roten Mütze, also Fahrdienstleiter war und schilderte ihm die Situation. Dieser meinte zunächst der Hund würde sicher bald zurück kommen.

Nachdem sie aber fast eine Stunde vergeblich auf die Rückkehr von Hexe gewartet hatten rief er dann doch an der nächsten Station in der neun Kilometer entfernten Kreisstadt Düren an und informierte das dortige Bahnpersonal. Diese Männer und Frauen hielten dann dort intensiv nach der Ausreißerin Ausschau und nach weiteren zwei Stunden banger Wartezeit kam der erlösende Anruf, dass die vermisste soeben mit blutigen Pfoten angekommen und eingefangen worden sei.

Erleichtert setzte sich mein Großvater in den nächsten Zug nach Düren und holte den traurigen und völlig erschöpften Hund nach hause. Hier musste ihn Oma dann trösten und gesund pflegen.

Das war also eine typische Reaktion von Hexe und deshalb durfte sie seit dem nicht mehr mit zum Bahnhof wenn jemand von uns ankam oder abfuhr. So blieb Hexe also Zuhause bei Oma und wartete. Dabei schien sie richtig zu begreifen was da vor sich ging. Die ganze Zeit rannte sie aufgeregt in der Wohnung umher und machte vor lauter Aufregung sogar schon einmal ein „Bächlein“, wie meine Oma es nannte, auf den Flur.

Den Höhepunkt folgte aber regelmäßig wenn Opa beim Heimkommen mit dem Gast aus Frankfurt die Haustür aufschloss. Dann war in Sekundenschnelle das ganze Haus mit infernalischem Freudengebell und Gejaule erfüllt. Meine Großeltern wohnten in der obersten Etage eines dreistöckigen Hauses. Hexe stürmte nun schneller als es ihre kurzen Dackelbeine erlaubten die vier Treppen hinunter, überschlug sich auf jeder mehrmals, rappelte sich auf jedem Absatz wieder auf und stürmte weiter. Dabei wurde ständig gebellt und geheult. Der lange Schwanz wedelte unaufhörlich und endlich unten angekommen, vollführte sie regelrechte Freudentänze. Wir konnten kaum die Treppen hinauf gehen denn ständig lief sie vor, kam zurück und wuselte uns zwischen den Beinen umher. Und als wir endlich oben in der Wohnung angekommen waren dauerte es bestimmt eine halbe Stunde bis sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

Von da an war sie dann fast die ganze Zeit meines Aufenthaltes in Langerwehe an meiner Seite und ich musste mich regelrecht weg stehlen wenn ich mit meinen Freunden zum Bauhof oder in die Feldmark zum Spielen wollte.

Oma erzählte mir, dass sie die ganze Zeit über traurig war, aber eine innere Uhr sagte ihr dann wohl wann es an der Zeit war dass ich zurück kommen musste. Dann wurde sie wieder lebhafter, lief wieder aufgeregt in der Wohnung hin und her, und als ich endlich kam vollführte sie wieder ihre Freudentänze.

So ging es die ganzen Ferien über, und so ging es jahrelang bis sie durch die zwar gut gemeinte, aber sicherlich falsche Ernährung durch meine Oma langsam zu dick wurde und dann im hohen Hundealter von vierzehn Jahren starb.

 

Hier muss ich wohl doch eines meiner früher getroffenen Urteile revidieren. Neben meiner Oma in Lagerwehe war Hexe wohl das einzige weibliche Familienmitglied das meinem jugendlichen Charme nicht widerstehen konnte

 

Ferdinand P. Martin