Begegnung mit Don Felippe

 

„Opa, ich bin noch nie in meinem ganzen Leben mit einem Flugzeug geflogen,“ sagte meine siebenjährige Enkeltochter Melanie zu mir, „lass uns doch dieses Jahr einmal mit dem Flugzeug in die Ferien fliegen.“

 

 

 

Sieben Jahre alt und noch nie geflogen! Wenn ich so eindrücklich auf einen Missstand hingewiesen werde, und das auch noch von meiner Enkelin – ist das für mich wie ein Befehl von meiner Frau.

 

 

 

Natürlich war da zuerst einmal die Qual der Wahl. Wo sollten wir hinfliegen? Die meisten unserer bisherigen Urlaubsreisen hatte uns in den Norden geführt, und hier war die Auswahl meist nur zwischen Dänemark, Norwegen und Schweden zu treffen.

 

 

 

Aber nun sollte es in den Süden gehen und dort war die Auswahl schon entschieden größer. Obwohl so groß auch wieder nicht, den die Aufforderung der jungen Dame kam ziemlich spät vor den Sommerferien und die meisten Reiseziele waren schon ausgebucht. Also entschlossen wir uns es mit einer Last-Minute-Reise zu versuchen und das Reiseziel dem Zufall zu überlassen.

 

 

 

So fuhr ich dann eine Woche vor Ferienbeginn – so spät war es schon – zum Flughafen um dort eine Reise für uns drei zu buchen. Aber das war leichter gesagt als getan. Zunächst hüpfte ich fast drei Stunden zwischen den Schaltern von zwanzig Firmen hin und her, die dort solche Reisen anbieten. Zuletzt hatte ich fünf Reisen in der engeren Wahl. Davon konnte ich aber letzten Endes gleich drei wieder streichen, denn sie waren schon ausgebucht obwohl sie noch per Aushang angeboten wurden. Blieben also nur noch zwei, und ich hatte die Auswahl zwischen einem Vier Sterne Tausend-Betten-Hotel in Tunesien, und einem kleinen, nur mit zwei Sternen ausgezeichnetem, Hotel namens „Don Felippe“ aus Ischia. Unsere Erfahrungen mit Hotel-Urlaub waren gleich null, da wir bisher immer nur in Ferienwohnungen und Ferienhäusern Urlaub gemacht hatten.

 

 

 

Obwohl teurer entschied ich mich für das „kleinere Übel“, musste mir aber bevor ich nach hause fuhr, noch einmal in Erinnerung rufen was Ischia eigentlich war und wo es sich befand. Schließlich wollte ich mich nicht blamieren wenn ich danach gefragt wurde.

 

 

 

Christel war begeistert von meiner Wahl, zumal ich auch einen Reisekatalog des Veranstalters, in dem das Hotel beschrieben und bebildert war, mitgebracht hatte. Das Angebot fand Gnade vor ihren kritischen Augen. Und als Melanie hörte dass das Hotel auch über einen kleinen Thermal-Pool verfügte, war auch sie davon begeistert obwohl sie bestimmt nichts mit dem Begriff Thermal anfangen konnte. Nachdem also meine Buchung bei meiner weiblichen Reisebegleitung Anklang gefunden hatte, konnte es zwei Wochen später losgehen.

 

 

 

Der Flug nach Neapel hinterließ bei uns drei unterschiedliche Eindrücke. Während Melanie, die also zum ersten mal flog, hellauf begeistert war, hatte Christel, die vor fünfzehn Jahren zuletzt gelogen war, doch ein etwas mulmiges Gefühl.

 

Mich dagegen trieb die Neugier um, was sich wohl seit den Zeiten meiner Tätigkeit als Flugzeugmechaniker so alles geändert hatte. Schließlich waren es bei mir über zwanzig Jahre her das ich zuletzt in einem Flugzeug war.

 

 

 

Nach unserer Landung in Neapel wurden wir in einen Bus verfrachtet und zum Hafen gefahren, von wo aus mit einen Schnellfähre nach Ischia gehen sollte.Die Busfahrt durch Neapel brachte mir das Zitat „Neapel sehen und sterben“ in Erinnerung. Allerdings nicht in dem positiven Sinne in dem es ursprünglich gemeint war, sondern im Gegenteil. Die Müllabfuhr streikte wieder einmal und so fuhren wir durch Straßen und Stadtviertel die eher an Slums indischer oder südamerikanischer Metropolen erinnerten. Verwahrlosung und Schmutz wohin man schaute. Und das Wasser in den Hafenbecken konnte man nur unter einer dicken Schicht von Müll und Dreck vermuten. Dermaßen heruntergekommen hatte ich mir nie eine europäische Stadt vorgestellt.

 

 

 

Und so deutete ich auch das Zitat um und vermutete, wenn mit all dem in Berührung kommt, stirbt man.

 

 

 

Deshalb waren wir all drei froh, dass wir diesen ungastlichen Ort verlassen konnten, und das Wasser in der Bucht von Neapel immer sauberer wurde je weiter die Stadt am Horizont verschwand.

 

Auf Ischia angekommen wurden wir wiederum mit Bussen auf die einzelnen Hotels verteilt. Das Don Felippe befand sich in Ischia Ponte, lag an einem Hang etwa fünfzig Meter über dem Meer und vom Garten aus hatte man einen herrlichen Blick über die Bucht und die kleine Insel mit der Festung.

 

 

 

Mühsam schleppten wir und die etwa sechzehn anderen Gäste die mit uns angekommen waren unser Gepäck über schmale und steile Treppen zum Hotelgebäude hoch. Vorbei an dem kleinen Thermal-Pool mit zwei kleinen Sitzgruppen unter Sonnenschirmen und an unzähligen blühenden Büschen und Pflanzen erreichten wir das kleine Haus.

 

 

 

Und hier stand er. Don Felippe höchst persönlich. Ein kleiner, schmächtiger Mann von etwa sechzig Jahren, der sich wegen seiner geringen Größe von nur 1,65 Meter auf die dritte Stufe der Treppe, die ins Innere des Hauses führte, gestellt hatte um seine neuen Untertanen zu begrüßen und wie es schien zu begutachten.

 

 

 

Mit dem unnachahmlichen Gehabe eines spanischen Granden und dem stahlharten Blick der an Napoleon erinnerte überflog sein Blick die vor ihm stehenden Urlauber. Seine braungebrannte – von einem grauen Haarkranz umsäumte Glatze – schimmerte im Schein der Sonne. Wie ein Feldwebel rief er in fast perfektem Deutsch die Namen der der Neuankömmlinge auf, um sich die Gesichter jedes Einzelnen einzuprägen.

 

 

 

Denn nun ging es an die Zimmerverteilung, und die wurde wohl nach dem ersten Eindruck und der persönlichen Sympathie vorgenommen. Das Hotel hatte einundzwanzig Zimmer und davon sollten heute sieben neu belegt werden.

 

 

 

Und diese Belegung erfolgte nach einer offensichtlich traditionellen Zeremonie. Der Patrone rief noch einmal die Namen der Gäste die zusammen gehörten auf, betrachtete sie eindringlich, bevor er entschied und verkündete welches Zimmer sie beziehen sollten. Dann führte er sie zu ihrem Zimmer ohne auch nur die geringsten Anstalten zu machen ihnen beim Tragen des Gepäcks behilflich zu sein.

 

 

 

Die anderen Gäste mussten nun etwa fünf Minuten warten bis er wieder erschien und das Ganze von vorne begann.

 

 

 

Im Nachhinein war offensichtlich, das die Zimmerverteilung ganz nach seiner persönlichen Sympathie von statten ging. So hatten die beiden jungen Frauen aus Hamburg – von denen eine Lehrerin war – eines der zwei Zimmer mit großer Veranda und Meerblick bekommen. Das andere bekam ein junges Ehepaar.

 

Wir drei mussten in seiner Beliebtheitsskala irgendwo in der Mitte gelandet sein und erhielten ein Zimmer in der ersten Etage von dessen seitlichen Balkon man zumindest einen teilweisen Blick auf das Meer hatte. Ganz am Ende der Liste war wohl ein Ehepaar mit einem etwas vorlautem Mädchen in Melanies Alter gelandet. Sie bekamen das Zimmer direkt unter uns zugewiesen. Sie wurden mit einem Blick aus dem Fenster auf eine zwei Meter entfernte Betonwand „bestraft“.

 

 

 

Im Zimmer angekommen wurden wir mit der Hausordnung bekannt gemacht und erfuhren dabei unter anderem das es pünktlich um neunzehn Uhr Abendessen gab und das Frühstück ab acht Uhr eingenommen werden konnte. Außerdem wurden wir noch gefragt was wir heute Abend essen wollten. Hierbei beschränkte sich die Auswahl auf Spaghetti mit einer Tomatensoße oder Rührei auf Brot.

 

Diese Frage nach dem abendlichen Essenswunsch sollte sich von nun an die nächsten zwei Wochen morgendlich beim Frühstück wiederholen. Wobei jeweils ein „Hauptgericht“ und als Alternative im täglichen Wechsel Rührei oder eine von ihm als „Rotes Wasser“ bezeichnete Tomatensuppe zur Auswahl stand.

 

 

 

Das Abendessen wurde dann jeden Abend nach einem gleichbleibenden Ritus zelebriert und zog sich, obwohl nur fünfzig Gäste zu beköstigen waren, weit über zwei Stunden hin. Das lag unter anderem auch daran, dass im ganzen Hotel nur drei Personen beschäftigt waren.

 

 

 

Da war zunächst Don Felippe, der Patrone, der für alles außer kochen und reinigen zuständig war. Also auch für den Service bei den Mahlzeiten inklusive der Getränke. Dann war da Maria, die in der Küche als Alleinköchin tätig und ein Zimmermädchen, das für die Reinigung der Zimmer und des Hotels sowie das Waschen der Hotelwäsche zuständig war.

 

 

 

Alle Tische waren mit den jeweiligen Zimmernummern versehen und so saßen wir also immer am gleichen Platz. Erst wenn sich alle Gäste eingefunden hatten begann der Hausherr mit dem Servieren.

 

Zuerst brachte er Pane, das obligatorische Weißbrot, und Butter, wobei er streng darauf achtete dass er niemals mehr Portionen gleichzeitig auftrug als Personen am jeweiligen Tisch Platz genommen hatten. Also keinesfalls mehr als drei.

 

 

 

Die Reihenfolge in der er die einzelnen Tische bediente änderte sich täglich, so dass es durchaus passieren konnte das eine halbe Stunde verging bis „il Patrone“ zum ersten mal an unserem Tisch erschien. Zumal er zwischendurch auch noch die bestellten Getränke aus der Bar in der Hotelhalle besorgte.

 

Das Servieren des Hauptganges erfolgte in der gleichen Reihenfolge,. Allerdings begann er damit erst nachdem er vorher mit Suppe oder Salat die Runde gemacht hatte und er alle Tische wieder abgeräumt hatte.

 

Gab es als Hauptgericht Pasta und man wünschte dazu Parmesankäse, musste man sich per Handzeichen bemerkbar machen. Dann unterbrach Don Felippe sofort seine augenblickliche Tätigkeit und kam mit einem kleinen Schälchen und einem silbernen Löffelchen an den Tisch und streute einen halben bis maximal einen ganzen Löffel voll über die Nudeln. Mehr gab es nicht, denn Parmesano sei sehr teuer , erklärte er.

 

 

 

Einmal, am zweiten oder dritten Abend, an dem ich noch nicht wusste wer in der Küche wirkte, bat ich ihn dem Koch ein Kompliment für das wirklich hervorragende Essen zu machen. Sofort ließ er alles liegen und stehen, eilte in die Küche und kam nach einigen Augenblicken mit der sich sträubenden Maria wieder an unseren Tisch.

 

Maria, eine typische italienische Mama, die ihren Arbeitgeber sowohl um einen Kopf als auch um das doppelte an Gewicht überragte, war sichtlich verlegen als er ihr mein Kompliment übersetzte.

 

Und das tat er so laut, dass es schließlich alle im Speisesaal mit bekamen und durch spontanen Beifall ihre Zustimmung signalisierten. Nun war auch ich etwas verlegen und die ganze Situation löste sich erst in einer allgemeinen Heiterkeit auf als ich seiner Aufforderung nachkam und mich bei Maria mit einem Küsschen bedankte. Als Folge davon erhielt ich in den nächsten Tagen hin und wieder von Maria einen kleinen Extrahappen zugesteckt, von dem Don Felippe nichts wissen durfte.

 

 

 

Doch zurück zu allabendlichen Ritual. Nur beim Dessert ging es dann etwas lockerer zu. Das kam dann etwas schneller und auch die vorher streng gehandhabte Reihenfolge wurde nicht mehr eingehalten. Trotzdem waren bis zum Ende der Mahlzeit mindestens zwei Stunden vergangen.

 

 

 

Im allgemeinen waren die Gäste damit zufrieden. Nur das junge Paar, genau das, dass eines der besten Zimmer bekommen hatte, beschwerte sich nach dem zweiten Abend bei der Reiseleitung und zog am dritten Tag in ein anderes, wie sie glaubten, besseres Hotel um.

 

Wir sahen sie während unseres weiteren Aufenthaltes noch öfters allein am Pool ihres neuen Domizils liegen, das nur durch eine Straße getrennt, direkt unterhalb unseres Hotels lag. Sie sahen immer irgendwie etwas traurig aus, während es im Don Felippe trotz der Eigenheiten des Besitzers doch im lustig und fröhlich zuging.

 

So ließ sich der Don nie lange bitten abends auf der Terrasse einige der schönen süditalienischen Lieder a`capella zum Besten zu geben. Und wenn, wie an einigen Abenden,auch noch sein Freund mit seiner Gitarre hinzu kam, unternahm selten einer der Gäste seinen Abendspaziergang bevor die beiden das Ende der Vorstellung verkündeten.

 

 

 

Wir, die keinerlei Erfahrungen mit Urlaub im Süden hatten, waren natürlich total von den dort im August herrschenden Temperaturen erschlagen. Italienkenner wären bestimmt nicht im August nach Ischia gekommen, denn mit Temperaturen um 35 Grad muss man erst einmal fertig werden. Hier half einfach nur viel trinken und sich ein schattiges Plätzchen suchen.

 

Und mit dem Verkauf von Getränken trat eine andere Eigenart von Don Felippe zutage. Alle Getränke, Eis und kleine Imbisse konnten nicht bar bezahlt werden. Sie wurden grundsätzlich auf die Zimmerrechnung gebucht und mit Unterschrift bestätigt.

 

Eine Zwischenrechnung wurde mit Hinweis auf seine Buchführung ebenso abgelehnt wie eine Auskunft über die Höhe der Belastung des Kontos. Kreditkarten hatten wir nicht, EC-Karten gab es noch nicht und so hatten wir uns vor dem Urlaub mit Bargeld eingedeckt. Wenn wir also am Ende des Urlaubs keine böse Überraschung erleben wollte, musste man eine eigene Liste über den Verzehr führen. Wir schrammten nur ganz knapp an einem Fiasko vorbei, denn als wir am Abreisetag unsere Rechnung beglichen blieben uns gerade noch 16,50 DM übrig. Der Urlaub hätte keinen Tag länger dauern dürfen.

 

 

 

Es war ja auch zu verlockend gewesen nachmittags am Pool zu liegen und kurz mal drei Zitronenlimonaden zu bestellen und interessiert zu beobachten wie Don Felippe in den Garten ging, drei Zitronen vom Baum pflückte, sie auspresste und zusammen mit Zucker und Eiswasser ein herrlich erfrischendes Getränk herstellte. Dazu den Wein bei den Mahlzeiten und die Drinks abends an der Bar oder den Cappuccino zwischendurch sowie die diversen Snacks und Gelati. Da kam man schnell ins Schleudern und musste höllisch aufpassen das man den Überblick nicht verlor.

 

 

 

Aber es ist ja noch einmal gut gegangen. Alles in allem ein schöner Urlaub, wobei ich besonders davon überrascht war, dass sich meine zwei Reisebegleiterinnen in keiner Weise daran störten das wir zu jeder Tages- und Nachtzeit Besuch von kleinen Eidechsen in unserem Zimmer hatten.

 

 

 

Und mit Don Felippe haben wir ein interessantes Original kennen gelernt.

 

 

 

Ja und da war ja noch die Geschichte mit Melanies erster Flugreise. Während sie auf dem Hinflug viel Spaß und Vergnügen hatte, entwickelte sich die Rückreise zu einer einzigen Katastrophe für sie.

 

Sie hatte sich richtig fein gemacht und ihre neuen Sachen die wir im Urlaub gekauft hatten angezogen um sie ihren Eltern vorzuführen. Die kurze Fahrt mit dem Bus nach Ischia Porte, dem Hafen der Insel, verlief noch reibungslos. Aber schon auf der Überfahrt nach Neapel wurde es ihr übel und sie musste sich übergeben.

 

Hierbei wurden ihre Kleider noch verschont. Ebenso wie bei der zweiten Übelkeit auf der Busfahrt zum Flughafen von Neapel.

 

Im Flugzeug aber ging dann alles viel zu schnell und sie konnte die Tüte nicht mehr rechtzeitig greifen. So passierte das Malheur.

 

Zwar halfen ihr Christel und die freundlichen Stewardessen die größten Schäden zu beseitigen, aber der Geruch blieb einfach in den Kleidern hängen. So erlebte sie traurig und wie ein Häufchen Elend in ihrem Sitz zusammengekauert, den zweiten Flug ihres Lebens.

 

 

 

Und als ihre Mutter, die uns mit dem Auto am Flughafen in Hamburg abholte, sie auch noch auf den Geruch ansprach und nichts zu ihren neuen Kleidern sagte, besonders nicht zu ihrem schicken Halstuch das die „bella Signorina“ als zweiten Preis einer Tombola auf einer Fahrt um die Insel mit einem Glasbodenboot gewonnen hatte, war es ganz um ihre Fassung geschehen.

 

Etwa fünf Kilometer vor ihrem elterlichen Zuhause sagte sie zu Christel: „Oma, können wir nicht hier aussteigen und wir gehen zu Fuß heim?“

 

 

 

Zum Glück hat sie sich inzwischen an das Fliegen gewöhnt und wir haben seither mehrere Flugreisen ohne Probleme hinter uns gebracht.

 

 

 

Ferdinand Martin