Lets Twist again

 

Nach Beendigung meiner Schulzeit hatte ich mich bei der Firma Hartmann & Braun in Frankfurt-Bockenheim um eine Lehrstelle als Feinmechaniker beworben und hatte auch das große Glück als einer von 60 neuen Lehrlingen aus 450 Bewerbern angenommen zu werden. Dieses Glück teilte ich auch mit meinen ehemaligen Klassenkameraden Walter Seidel und Bernd Otto Diel die sich ebenfalls – ohne dass wir es vom anderen wussten – beworben hatten. Mit diesen beiden hatte ich schon Jahre zuvor das Abenteuer auf dem alten Judenfriedhof erlebt.

Nun stürzten wir uns also in ein neues Abenteuer, das man gemein hin als den „Ernst des Lebens“ bezeichnete.Und das ganze sollte dreieinhalb Jahre dauern – natürlich die Lehre und nicht das Leben. Und wir standen es auch alle drei durch und bestanden am Ende die Prüfung.

Neben allem lernen und büffeln hatten wir aber auch viel Spaß in dieser Zeit. Besonders viel Spaß hatte ich aber mit meinem Freund B.O., so wurde Bernd Otto allgemein nur genannt, mit Winfried, Norbert und zwei weiteren Lehrlingen aus unserem Lehrjahr. Wir machten nämlich zusammen Musik.

Und das kam so. Die Kantine in unserem Stammwerk in der Gräfstraße hatte nämlich eine große Bühne und diente nach Feierabend und an Wochenenden auch als Versammlungs- und Veranstaltungsraum. Auch hatten wir Lehrlinge dort zu bestimmten Zeiten werksinternen theoretischen Unterricht. In diesem Raum probte nach Feierabend auch das große Hartmann&Braun-Orchester und jährlich fand hier auch die „Große Prunksitzung des werkseigenen Karnevalsvereins „Der harte Braune“ statt.

Als wir eines Tages auf den sich verspätenden Meister für den Werksunterricht warteten entdeckten wir hinter dem geschlossenen Vorhang der Bühne die Instrumente des Werksorchesters. B.O., der schon immer mit allen möglichen Stöcken, Ästen und Metallstäben auf allem und jedem herum trommelte, setzte sich sofort an das Schlagzeug, Winfried und Norbert ergriffen sich eine Gitarre, einer der anderen Lehrlinge setzte sich an das Klavier und ich, größenwahnsinnig wie ich nun einmal war, schnappte mir das nächst erreichbare Instrument, den Kontrabass. Zwar konnte ich ihn nicht richtig spielen, aber es bereitete uns großen Spaß die Wartezeit auf den Meister mit Musik zu überbrücken.

Es bereitete solch ein Vergnügen, dass wir spontan beschlossen eine eigene Band zu gründen. Innerhalb einer Woche hatten wir mit der Jugendvertretung – eine Art Betriebsrat für Jugendliche - und dem Betriebsrat selbst gesprochen. Wir bekamen die Erlaubnis nach Feierabend in der Kantine zu proben. Norbert und Winfried brachten ihre eigenen Gitarren mit und wir anderen durften die Instrumente des Orchesters mitbenutzen, sofern wir sorgsam damit umgingen. Später kaufte sich B.O. Ein eigenes Schlagzeug, der Klavierspieler besorgte sich ein Schifferklavier und ich baute mir aus Sperrholz einen „Teekisten-Bass“, wie er auch bei Skiffle-Bands üblich war. Aber das war schon ein Ausflug in die Zukunft.

Zunächst einmal probten wir etwa ein knappes halbes Jahr vor uns hin und spielten so damals populäre Titel wie „Ghostriders“ und „Apache“ von den Shadows, oder versuchten uns an Nummern von Bill Halley oder des gerade am Musikhimmel erscheinenden Elvis. Das Ganze aber ohne Noten, rein nach Gehör, und ohne die geringste Ahnung wann und wo wir jemals damit auftreten würden. Wenn überhaupt.

Erst im Spätherbst des ersten Lehrjahres traten kurz hintereinander ein Kollege, der Vorsitzender des Karnevalsvereins „Der Harte Braune“ und gleichzeitig Mitglied einer großen Bockenheimer Karnevalsgesellschaft war und einer der Jugendvertreter an uns heran und boten uns zwei beziehungsweise drei Auftrittsmöglichkeiten an.

Zum Einen sollten wir auf der einer kleineren Veranstaltung in der Werkkantine zeigen und bei Gefallen auf einer Großen Prunksitzung in einer Bockenheimer Turnhalle einen etwa fünfzehn Minuten langen Show-Auftritt hinlegen und zum Anderen sollten wir auf einer großen Lehrlingsfete mit einer musikalischen Persiflage auf unsere Meister und Ausbilder auftreten.

Wir mussten uns also zweimal etwas gänzlich anderes einfallen lassen und es in knapp zweieinhalb Monaten zur Bühnenreife bringen damit wir dann einmal vor 400, eventuell dann vor 1200 Menschen (Narren) und zum Schluss vor 300 Lehrlingen (auch Menschen) bestehen konnten.

Uns war ganz schön mulmig. Aber wir schafften es und es wurden sogar tolle Erfolge die sogar eine kleine – besser klitzekleine Serie von Auftritten nach sich zogen.

Ich hatte inzwischen ein paar Läufe und Akkorde auf dem Bass gelernt und damit keinen großen Übungsbedarf zumal ich keine allzu großen musikalischen Ehrgeiz hatte um unbedingt ein großartiger Solist zu werden.

Deshalb kümmerte ich mich in erster Linie um das Programm und dessen Inhalt und Gestaltung.Von meinem Vater hatte ich die Kunst zu dichten und zu reimen in die Wiege gelegt bekommen. Es fiel mir also nicht schwer. Schon in der Schule hatte ich Verse und Spottgedichte über meine Mitschüler verfasst und an der notwendigen Fantasie hat es mir noch nie gemangelt.

 

So stellte ich also zunächst unser „Showprogramm“ zusammen. Dort standen wir zuerst, mit Hilfe von Betttüchern, Stoffwindeln und Gardinenschnüren als Araber verkleidet, auf der Bühne um „Die Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe“ von Bill Ramsay und „Brennend heißer Wüstensand“ von Freddy Quinn zu singen und zu spielen. Danach verdunkelte sich der ganze Saal für etwa zehn Sekunden. Wir zogen blitzschnell unsere Burnusse aus, warfen sie mitsamt den Kopftüchern (Windeln) hinter uns, setzten einen vorher bereit gelegten Cowboyhut auf und standen als das Licht wieder an ging mit Jeans, kariertem Hemd und eben diesem Hut an der Stelle an der vor kurzem noch die Araber gestanden hatten. Musikalisch folgten jetzt „Ghostriders“, „Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand“ und natürlich „Apache“. Dann wiederholte sich das Spielchen mit dem Licht. Hut ab, Hemd aus Matrosenmütze auf und wir standen im blauweissem Ringelshirt und Jeans auf der Bühne und brachten „Seemann, deine Heimat ist das Meer“ von Lolita,bevor wir den Saal mit „Golf von Biskaya“ und „Schön ist die Liebe im Hafen“ zum Abschluss zum Schunkeln und in Stimmung brachten.

Ganz anders war dagegen die Sache die wir für die Lehrlinge, Ausbilder und Meister einstudiert hatten.Hier benutzten wir nur bekannte Melodien, die ich alle mit neuen Texten, die auf die auf die Meister und Ausbilder Bezug hatten, versehen hatte.

Auch hier hatten wir einen vollen Erfolg und die satirischen Texte schlugen voll ein. Selbst Herr Cornell, ein sonst recht griesgrämiger Werkmeister aus der Lehrwerkstatt, den ganz besonders aufs Korn genommen hatte, war hellauf begeistert. Zumindest an diesem Abend.

Und noch einer war völlig hingerissen. Nämlich Herbert Krämer. Herr Krämer war einer der Ausbilder in der Werkzeugmacherei und ein Kerl wie ein Bär. Er war etwa 35 Jahre alt, 1,90 m Groß und ca. 100kg schwer. Und er war Ringer in einem Rödelheimer Athletikclub. Natürlich im Schwergewicht. Er war ein recht gutmütiger Mann und da er in seinem Verein für das Vergnügen zuständig war – er führte den Titel „Festausschussvorsitzender“ - kam er auf die, wie er meinte, großartige Idee, dass wir die kommende Weihnachtsfeier der Rödelheimer Kraftsportler musikalisch gestalten sollten. Das hieß, wir sollten zunächst ein paar Weihnachtslieder zur Bescherung der Kinder und der Ehrung der erfolgreichen Sportler spielen und danach etwa vier Stunden zu Tanz aufspielen. Und das in etwa zwei Wochen.

Wir lehnten das Angebot ab, da wir überhaupt keinerlei Erfahrung als „Tanzkapelle hatten. Zumal unser Schlagzeuger B.O. Noch nicht so taktsicher war. Dieses Argument fegte Krämer ebenso wie den Einwurf, wir würden nur über ein Repertoire von nur 45 Minuten verfügen, mit der Bemerkung: „ Dann macht ihr eben längere Pausen und außerdem sind die nach einer Stunde schon so betrunken, dass sie es gar nicht merken wenn ihr immer wieder das gleiche spielt:“ vom Tisch.

Den entscheidenden Ausschlag aber gab sein folgendes Argument: „Ihr bekommt an diesem Abend frei Essen und Trinken und 25 DM. Und zwar für jeden von euch.“

Das war natürlich ein gefundenes Fressen, denn als Lehrlinge im ersten Lehrjahr verdienten wir gerade einmal sechzig Mark im Monat und bei den Auftritten für die Fastnachter gab es nur ein Essen und ein Getränk.

 

So kam es also das wir uns an einem eiskalten Samstagnachmittag im Dezember in der Kantine unserer Firma trafen um die Instrumente zu holen.

Es muss schon ein merkwürdiger Anblick gewesen sein als sich kurze Zeit später eine Karawane von acht so genannten „Halbstarken“ - sechs Musiker und wie man heute sagen würde, zwei Roadies – beladen mit einem kompletten Schlagzeug, einem Kontrabass, zwei Gitarren, einem Akkordeon, einer Trompete sowie einem Verstärker mit zwei Lautsprecherboxen und drei Mikrofonen mit Ständer durch die Gräfstraße zur Bockenheimer Warte kämpfte. Von dort fuhren wir mit einer Straßenbahn nach Rödelheim um dort von der Haltestelle bis zur Vereinsturnhalle das gleiche Bild abzugeben. Es hatte sich niemand gefunden der unsere Instrumente mit dem Auto hingefahren hätte. Und ein Taxi konnten wir uns nicht leisten. Noch nicht.

 

Nachdem wir in der Halle angekommen waren bauten wir unsere Instrumente auf und machten das was man heute einen Soundcheck nennen würde und harrten nervös der Dinge die da auf uns zu kommen sollten.

Und dann trudelten auch schon die ersten Gäste ein. Die Männer waren alles kräftige, sportliche Kerle die sich mit Mühe in ihren guten Anzug gezwängt hatten. Selbst die Fliegengewichtler unter ihnen konnten nicht verleugnen dass sie Ringer, Boxer oder Gewichtheber waren. Einige kamen auf uns zu und wollten wissen wo wir schon überall gespielt hätten. Krämer musste ihnen ja wahre Wunderdinge über uns erzählt haben. Wir drucksten verlegen herum, murmelten etwas vor uns hin und begannen verzweifelt unsere Instrumente zu stimmen.

Das konnte ja heiter werden.

Gegen 18.00 Uhr war die Halle dann restlos voll. An langen Tischen und Bänken saßen an die 800 Sportler, Ehefrauen und Freundinnen sowie zahlreiche Kinder und lauschten der Begrüßung durch den Vereinspräsidenten.

Danach kam der erste Teil unseres Auftrittes. Die Bescherung der Kinder durch den Weihnachtsmann, die wir mit Weihnachtsliedern untermalen sollten. Das klappte ganz leidlich und wir mussten die fünf Lieder die wir einstudiert und auf immer acht Strophen verlängert hatten, innerhalb von einer Stunde nur dreimal wiederholen.

Danach wurde uns noch eine kleine Galgenfrist gewährt, denn das anschließende Essen dauerte etwas länger als eine Stunde.

 

Aber dann schlug unbarmherzig die Stunde der Wahrheit. Aber alles kam ganz anders als wir es befürchtet hatten. Mit etwas längeren Pausen dehnten wir unser Repertoire etwas aus und spielten fast eine Stunde. Es wurde eifrig getanzt und vor allem auch getrunken. Und gegen halb zehn kam überraschend der schon leicht angeschickerte Herbert Krämer auf uns zu, baute sich vor dem Podium auf dem wir saßen auf und verlangte lautstark, dass wir jetzt einen Twist spielen sollten. Wir sechs sahen uns verzweifelt an. Twist war ein gerade aus den USA herüber geschwappter Modetanz, den noch kaum jemand richtig beherrschte. Wir schon gar nicht. Nur im Radio, vor allem in AFN hörte man ständig Chubby Checker mit „Lets Twist again“.

Aber wir hatten den Song noch nie gespielt oder es auch nur versucht. Aber Herbert Krämer bestand darauf, dass wir es jetzt sofort spielen sollten, sonst.......

Verwirrt berieten wir uns kurz und B.O.als unverbesserlicher Optimist meinte: „Lasst es uns versuchen, mehr als schief gehen kann es nicht. Und wenn, den Kopf wird es uns nicht kosten.“

Zögernd nahm ich mir eines der Mikrofone und verkündete dem aufmerksam gewordenen Publikum die erstaunende Tatsache: „Meine sehr verehrten Damen und Herren, sie erleben nun die Deutschlandpremiere des neusten Modetanzes aus Amerika! Den Twist.“

 

One, Two, Three, Four.“ zählte ich vor und begann mit unsicherer Stimme zu singen: „Come on lets Twist again.......“

Und was dann folgte muss sich grauenhaft angehört haben. Winfried, unser Leadgittarist und der Arkordeonspieler versuchten krampfhaft die Melodie zu spielen, die sie ja auch nur vom hören kannten. B.O. Am Schlagzeug bemühte sich einen Beat zu finden der einigermaßen dem Rhythmus des Twistes ähnelte, was ihm allerdings nur zeitweilig gelang. Unser Trompeter schmetterte wilde Fanfarenstöße dazwischen, Norbert versuchte mit der Rhythmus-Gitarre einigermaßen mitzuhalten und steuerte einige passende und unpassende Bassläufe bei.

Dazu sangen Winfried, Norbert und ich mindesten dreißig mal die einzige uns bekannte Textzeile „Come on lets Twist again“ und füllten dabei die Lücken mit allen möglichen Englischbrocken die uns gerade einfielen.

 

Wie gesagt, es muss sich grauenhaft angehört haben. Aber wir bissen die Zähne zusammen. Da mussten wir nun durch und zu unserem großen Erstaunen füllte sich die Tanzfläche und alle fristeten mit der größten Begeisterung die ich je erlebt habe.

Und Herbert, wir durften ihn inzwischen duzen, war der Allergrößte. Er erzählte der es hören wollte oder nicht, welch großartige Band er für diesen Abend engagiert hatte. Er war selig und wir mussten bis weit nach Mitternacht noch mindestens fünfzehn mal „Twist“ spielen. Wir wurden sogar so kühn, dass wir andere Titel mit dem Rhythmus brachten den wir für Twist hielten.

 

Und Herbert war so stolz, dass er aus eigener Tasche noch einmal zehn Mark für jeden auf den Tisch des Hauses legte. Außerdem fiel ihm in einem lichten Moment ein, dass wir ja „seine“ Lehrlinge waren und und im Alter von 15 – 17 Jahren nachts nichts mehr auf der Straße zu suchen hatten. Deshalb besorgte und bezahlte er auch noch zwei Taxi die uns nach hause brachten. Und nachdem er erfahren hatte wie wir die Instrumente am Abend nach Rödelheim transportiert hatten, sorgte er dafür das sie am nächsten Tag ins Werk gebracht wurden.

Für uns war es allerdings der erste und auch der letzte Ausflug in die Tanzmusik. Aber Spaß hat es dennoch gemacht. Aber wer kann schon immer Spaß vertragen.

 

Ferdinand P. Martin