Hamburg, Bahnhof Altona 6.05 Uhr

Im Hamburger Hafen
Im Hamburger Hafen

Liebe geht bekanntlich durch den Magen, so sagt zumindest eine althergebrachte Volksweisheit die aber in der Regel an zwischenmenschliche Liebe denkt. Aber auch die Zuneigung an eine Stadt kann durchaus - zumindest am Anfang - davon betroffen sein.


Bei mir war es eindeutlich mit der Stadt Hamburg der Fall. Meine erste Begegnung mit der Stadt in der ich nun seit über fünfunddreissig Jahre lebe hatte ich 1952 im Alter von neun Jahren.

Damals fuhr ich zum ersten mal mit meinen Eltern und meinen - zu diesem Zeitpunkt - zwei Geschwistern nach Hörnum auf der Insel Sylt in die großen Ferien.

Mein Vater war Beamter bei der Bundesbahn und nur dadurch das wir alle Freifahrtscheine nutzen konnten und unser Quartier aus zwei kleinen Zelten auf dem Campingplatz in Hörnum bestand, war es uns überhaupt möglich sich den - zur damaligen Zeit unerhörten Luxus von vier Wochen Urlaub auf Sylt -  zu leisten.

 

Abends um 21.55 Uhr waren wir in Frankfurt mit dem D-Zug Basel - Westerland in Richtung Norden aufgebrochen. Mein Vater hatte es verstanden ein ganzes Abteil für uns alleine zu organisieren und so wurden die Sitze in der Mitte und am Fenster ausgezogen um eine Liegefläche für uns drei Kinder zu schaffen. Aber ich war so aufgeregt über unsere erste gemeinsame Urlaubsreise, dass ich die meiste Zeit der  Nacht nicht schlafen konnte. So leistete ich meinem Vater Gesellschaft und nervte ihn die ganze Nacht mit neugierigen Fragen. Meine jüngeren Geschwister und meine Mutter hingegen schliefen fast die ganze Zeit.

 

Um kurz nach fünf Uhr morgens machte mich mein Vater darauf aufmerksam, dass wir jetzt gleich nach Hamburg kommen. Eine Stadt für die er ein Faible hatte, zumal er im Krieg bei der Marine und auch ein großer Verehrer von Hans Albers war, dessen Lieder er gerne sang.


Aber der erste Eindruck war für mich enttäuschend. Der Zug hielt zunächst in Hamburg-Harburg und danach bekam ich nur trostloses und zum Teil noch vom Krieg zerstörtes Industriegebiet zu sehen. Erst als wir die Elbbrücken überquert hatten und der Zug durch den Freihafen fuhr, wurde es für mich interessant.

 

Mein Elternhaus in Frankfurt steht direkt am Main und ich war deshalb an den Anblick von Wasser, Schiffen und Möven gewöhnt. Aber was ich hier sah, stellte alles bisher gesehene in den Schatten. Die Schiffe waren größer - sehr viel größer - und die Kräne zum beladen waren höher - sehr viel höher - und zahlreicher. Selbst die Möven waren mindestens doppelt so groß als die, die ich bisher gesehen hatte. Ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.


Aber der Höhepunkt sollte noch kommen. Und der war weniger optischer Natur, sondern schmeckte einfach himmlich.


Aber der Reihe nach.


Nach kurzem Aufenthalt im Hauptbahnhof und im Bahnhof Dammtor näherte sich der Zug dem Altonaer Bahnhof. Kurz vor der Einfahrt weckte mein Vater meine Mutter um ihr zu sagen, dass sie auf die Kleinen aufpassen sollte. Den Langen - das war ich - nehme er mit.


Kaum war der Zug zu Stillstand gekommen stiegen wir beide aus und ich folgte meinem Vater die Waggonreihe entlang bis zum Querbahnsteig. Die große Uhr zeigte genau 6.05 Uhr.


Die Luft war feucht und diesig, denn es hatte die ganze Nacht über geregnet. Über dem ganzen Bahnhofsgelände lag ein merkwürdiger Geruch nach Ruß, Dampf und heißem Öl der Lokomotiven und am Ende des Bahnsteiges steuerte mein Vater auf einen Kiosk zu, von dem er behauptete, dass es hier den besten Kaffee auf allen deutschen Bahnhöfen gäbe.


Nun ist Kaffee bis heute noch nicht mein Ding, aber ich könnte schwören, dass es dort den besten Kakao der ganzen Welt gab.


Wir kauften also zwei Becher Kaffee und drei Becher Kakao sowie einige frische Brötchen, die hier merkwürdigerweise Rundstücke hießen und machten uns auf den Rückweg in unser Abteil wo die anderen schon auf uns warteten. Schnell hatte meine Mutter die Hamburger Rundstücke mit Frankfurter Wurst belegt und zusammen mit dem himmlischen Kakao gab es ein herrliches Frühstück. Und um 6.35 Uhr setzte sich der Zug wieder in Richtung Westerland in Bewegung.

 

Das war meine erste Begegnung mit Hamburg und so ähnlich wiederholte sie sich in den nächsten zehn Jahren an einem Samstagmorgen, einmal in jedem Sommer. Bis zum Ende meiner Lehrzeit und zur langsamen Abnabelung von meiner Familie.


Jedes mal war es das gleiche Ritual, den heißen Kakao nach einer fast durchwachten Nacht, das neugierige Beobachten der auf den Nachbagleisen ein- und ausfahrenden Züge der S-Bahn, die die Menschen zu ihren Arbeitsplätzen brachten. Bis sich der eigene Zug wieder in Bewegung setzte. Faszination und Routine zugleich, mit der geheimen Sehnsucht einmal etwas mehr von dieser Stadt mit dem besten Kakao der Welt zu sehen.


Aber der Aufenthalt blieb immer auf diese eine halbe Stunde beschränkt.


Erst Jahre später kam ich dazu einmal  eine eigenständige Reise nach Hamburg zu unternehmen und mir die Stadt genauer zu betrachten. Und es sollte meine letzte Reise nach Hamburg werden.


Denn alle weitere Reisen in die Stadt waren von da an nur noch Rückreisen.


Diese letzte Reise fand 1976 statt, und diesmal blieb ich ganz hier. Nicht wegen dem Kakao, der übrigens schon damals lange nicht mehr so gut schmeckte wie ich ihn in Erinnerung hatte.


Sondern weil ich mich verliebt hatt.


In die Stadt natürlich auch, aber in erster Linie in meine Frau, die eine waschechte Hamburgerin ist.

Bis vor zehn Jahren - als ich in Rente ging - bin ich von Montag bis Freitag jeden Morgen auf der Fahrt zur Arbeit  zwischen 6.05 Uhr und 6.35 Uhr am Altonaer Bahnhof vorbei gekommen und dacht sehr oft an den Kakao von damals.

 

Ferdinand Martin

  

Im Hamburger Hafen
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